Buchcover: "Unter Freunden stirbt man nicht" von Noa Yedlin

"Unter Freunden stirbt man nicht" von Noa Yedlin

Stand: 28.07.2023, 16:11 Uhr

Der renommierte Wirtschaftsprofessor Avischain stirbt eine Woche vor der Nobelpreis-Vergabe. Seine fünf besten Freunde beschließen kurzerhand, Avischains Ableben bis zur Preisbekanntgabe zu verheimlichen. Das bringt nicht nur viele unterdrückte Gefühle ans Licht, sondern die Clique auch in einige groteske Situationen.

Noa Yedlin: Unter Freunden stirbt man nicht
Kein und Aber, 480 Seiten, 26 Euro

"Unter Freunden stirbt man nicht" von Noa Yedlin

Lesestoff – neue Bücher 09.08.2023 05:15 Min. Verfügbar bis 08.08.2024 WDR Online Von Theresa Hübner


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"Sie erfasste sofort, dass er tot war."

"Schon als sie die Schlafzimmertür passierte, sah sie ihn. Er lag mit halb geöffneten Augen und nacktem Oberkörper rücklings auf dem Bett, in Hosen, die man nicht zum Schlafen trägt.
Sie erfasste sofort, dass er tot war; sie brauchte ihn nicht zu schütteln: Avischai, Avischai, nun steh doch auf! Er war tot, wirklich tot, Avischai war gestorben."

Ja, Avischai, der bekannte Wirtschaftsprofessor aus Tel Aviv, ist tot und Sohara, seine gute Freundin und heimliche Affäre, findet die Leiche. Doch statt eines Krankenwagens, ruft Sohara Nili, Jehuda und Amos in die Wohnung. Sie alle sind schon Jahrzehnte befreundet, eine eingeschworene Gemeinschaft, Avischai war immer das Zentrum der Clique, und diese Mitte ist nun weg, tot.

Der Tote ist für den Wirtschaftsnobelpreises nominiert

Das Problem ist vor allem der mehr als ungünstige Zeitpunkt. In acht Tagen wird der Gewinner des Wirtschaftsnobelpreises bekanntgegeben, Avischai ist ein heiß-gehandelter Kandidat, aber leider können nur Lebende den wichtigsten Preis der Welt gewinnen. Doch Jehuda hat eine Idee:

"'Was ich vorschlagen will, erscheint mir selbst absonderlich, aber ich könnte es mir nicht verzeihen, wenn ich diesen Einfall einfach für mich behalten würde.' Er blickte in die ihm gespannt zugewandten Gesichter, wie ein Todesmutiger vom Dach eines Wolkenkratzers in die Tiefe blickt: Was wäre, wenn wir ihn bis nächste Woche 'am Leben ließen'?"

Die Freunde melden Avischais Tod nicht

Avischais Tod nicht zu melden, ihm quasi posthum den begehrten Nobelpreis zu sichern – ein Akt der Nächstenliebe wäre das, ein letzter Freundschaftsdienst, das versichern sie sich gegenseitig. Sie alle sind "ganz normal Leute", gehobene bürgerliche Mitte – sind Geschäftsmann, Wirtschaftsprofessor, Memoirenschreiberin und Kinderärztin, alle in den 70ern – ehrbare Leute.

"(…) denn nur gutherzige, gebildete und relativ normale Leute ließen sich auf ein solches Abenteuer ein und trauten sich zu für zehn Tage einmal nicht normal zu sein."

Sie müssen ganz praktische Fragen klären

Zunächst geht es um ganz praktische Fragen: was tun, gegen den Leichengeruch? Wie eine glaubhafte Antwort auf Avischais Handynachrichten formulieren? Und wie lässt sich Avischais Schwester abwimmeln, als diese plötzlich vor der Tür steht?

Sie alle haben ihre ganz persönlichen Geheimnisse

Die Freunde wechseln sich ab, jede und jeder muss bei dem Toten in der Wohnung Wache halten. In jedem Kapitel wird so das Geschehen aus der Sicht eines anderen Mitglieds der Clique dargestellt. Und nach und nach wird klar: sie alle haben ihre ganz persönlichen Geheimnisse und reichlich unterdrückte Gefühle in Bezug auf Avischai. Die Freunde manövrieren sich mit jedem Kapitel tiefer in Schwierigkeiten, gleichzeitig kommen immer mehr Absurditäten und Widersprüche ihrer Biografien zum Vorschein. Sohara, schwer in Avischai verliebt, gibt nach außen die coole, sporadische Sexualpartnerin, Nili war jahrzehntelang Kinderärztin, obwohl sie Kinder gar nicht leiden kann, Jehuda will mit einem Vorwort des baldigen Nobelpreisträgers Avischai sein eigenes, schlechtes Buch aufpeppen und Amos, selbst Wirtschaftsprofessor, ist schlicht und einfach neidisch:

"Zu Beginn ihres Weges war alles noch in Ordnung gewesen. Bis eines Tages Avischai glatt an ihm vorbeizog. Die vergeblichen Versuche, den unseligen Moment auszumachen, in dem er sich ein kurzes Blinzeln gegönnt hatte, trieben Amos an den Rand des Wahnsinns."

Noa Yedlin schaut tief in die Köpfe des gehobenen israelischen Mittelstand

Die Sprache des Romans ist gestochen scharf, vor allem die Dialoge haben es in sich, sprühen vor Ironie und Groteske. Warum die Autorin dabei auf Anführungszeichen und Doppelpunkte verzichtet, bleibt ihr Geheimnis. Anfangs liest sich das etwas mühsam, aber das ist nur ein kleiner Abzug in der B-Note. Noa Yedlin schaut tief in die Köpfe des gehobenen israelischen Mittelstands, den man so genauso in jeder deutschen Großstadt finden dürfte. Jede der fünf Hauptfiguren ist präzise herausgearbeitet, mit allen Abgründen und Widersprüchen. Genüsslich reißt Noa Yedlin alle bürgerlichen Fassaden ein, ja, man kann die Selbstbilder förmlich splittern hören – ein Roman, irgendwo zwischen Lachanfall und Gänsehaut.