"Lass uns doch noch etwas bleiben" von Lionel Shriver
Stand: 28.06.2024, 07:00 Uhr
Gehen oder bleiben, rechtzeitig selbstbestimmt abtreten oder das Lebensende nehmen, wie es kommt? In Lionel Shrivers neuem Roman darf ein Ehepaar diese Frage immer wieder neu entscheiden. Ein hochkomischer Thesenroman, auch wenn einem das Lachen mitunter im Halse stecken bleibt. Eine Rezension von Oliver Pfohlmann.
Lionel Shriver: Lass uns doch noch etwas bleiben
Aus dem amerikanischen Englisch von Bettina Abarbanell und Nikolaus Hansen.
Piper, 2024.
352 Seiten, 24 Euro.
Im Zentrum von Lionel Shrivers neuem Roman steht ein Londoner Ehepaar, die Wilkinsons. Er arbeitet als Allgemeinmediziner, sie als Krankenschwester. Der Roman beginnt an einem schicksalhaften Abend im Jahr 1991; da sind Cyril und Kay Anfang 50 und haben gerade allen Grund, sich über das Alter Gedanken zu machen. Denn an diesem Tag ist Kays Vater gestorben, nach Jahren der Demenz und aufopferungsvollen Pflege eine Erlösung für alle Beteiligten.
Sieht so die Zukunft aus? Man selbst siecht dahin und der Rest der Familie – oder gegebenenfalls das Pflegesystem – muss sich um einen kümmern? Keine guten Aussichten, wie sich die beiden eingestehen müssen. Doch zu Kays Überraschung hat ihr Mann schon einen Ausweg parat, in Form garantiert schmerzfrei wirkender Tabletten, die für den Tag X im Kühlschrank bereitliegen sollen.
Schließlich, so der Arzt, hält sich in Sachen Gesundheit jeder für eine Ausnahme, bis er es eben nicht mehr ist und nicht mehr selbst über sein Schicksal bestimmen kann. Warum also nicht lieber beizeiten freiwillig abtreten und so auch Familie und Gesellschaft entlasten? Seine Frau muss nicht lange nachdenken. "Ich bin dabei", sagt sie grimmig – nicht zuletzt, weil ihr geheimer Selbstmordpakt ja erst an ihrem 80. Geburtstag in die Tat umgesetzt werden soll, also in knapp dreißig Jahren, im März 2020.
"Angenommen, sie würde Cyrils Vorschlag einmal ernst nehmen (was sie, wenn sie ehrlich zu sich war, fast … oder eigentlich nie tat […]). Vermutlich hatte nichts von dem, was nach Ende März 2020 irgendwo auf der Welt geschah, [...] die geringste Bedeutung für ihr Leben."
Natürlich kommt es am Tag X anders als geplant. Nicht nur wegen der Pandemie. Sondern weil Kay im letzten Moment die Tochter alarmiert. Cyril, enttäuscht von diesem Verrat, schluckt die Tabletten allein, und Kay ist noch ein schönes Jahr als Witwe vergönnt. Dann wird sie überfahren, einfach so, zack.
Am Ende von Kapitel 1 sind die Protagonisten tot und alle Fragen offen. "Should we stay or should we go", heißt der Roman der US-amerikanischen Autorin im Original, nach dem berühmten Song von The Clash. Gehen oder bleiben: Erstaunlicherweise werden sich Shrivers debattierfreudige Protagonisten diese Frage im Lauf des Romans immer wieder stellen.
Denn "Lass uns doch noch etwas bleiben", wie der deutsche Titel lautet, funktioniert nach dem Prinzip "Und täglich grüßt das Murmeltier". Der fabulierlustige Roman erzählt das Ende der Wilkinsons in immer neuen Variationen, bei Änderung mal kleinerer, mal größerer Stellschrauben: Mal nimmt Kay die Tabletten und es ist Cyril, der, seine tote Frau im Arm, einen jähen Sinneswandel erlebt, nur um Monate später, wie zur Strafe, nach einem Schlaganfall vollständig gelähmt im Krankenhaus zu landen. Oder Kay lehnt schon 1991 Cyrils Vorschlag ab:
"So ein dummer, willkürlich terminierter Selbstmordpakt ist psychologisch unrealistisch, und außerdem möchte ich mich gar nicht umbringen. Genügt dir das nicht? Gelegentlich führen Menschen im Alter ein erfülltes, aktives, reiches Leben. Wenn du meinst, daran zu glauben ist wie an Elfen zu glauben, dann bitte. Ich glaube an Elfen."
In dieser Variante verbringt das Paar seinen Lebensabend in einer luxuriösen Seniorenresidenz – nur um sich dann dort wie lebendig begraben vorzukommen. In Science-Fiction-artigeren Szenarien lassen sich die Wilkinsons einfrieren, werden dank eines Verjüngungsmittels unsterblich oder müssen erleben, wie gleich ganz England infolge von Klimawandel, Flüchtlingskrisen und Finanzcrashs untergeht.
"Kay und Cyril Wilkinson stellten fest, dass es nur eines gab, was schlimmer war als sehr, sehr alt zu sein: sehr, sehr alt und pleite zu sein."
Gehen oder bleiben? Indem Shrivers kluger und hochkomischer Thesenroman auf diese Fragen viele Antworten gibt, eine verblüffender als die andere, entwickelt er echte Pageturnerqualitäten, trotz seines beklemmenden Themas. Wie lässt die Autorin Kay an einer Stelle sagen? Vorzeitig abzutreten, das wäre so, als würde man einen Roman nur halbgelesen ins Regal zurückstellen, ohne je das Ende zu erfahren. So gesehen ist Shrivers Roman genau das: ein wunderbares Plädoyer fürs Weiterlesen und -leben.