Buchcover: "Sund" von Laura Lichtblau

"Sund" von Laura Lichtblau

Stand: 02.07.2024, 07:00 Uhr

Auf einer Insel der Glücklichen tauchen die Geister der Vergangenheit auf. Laura Lichtblau hat mit "Sund" einen grandiosem Roman geschrieben. Eine Rezension von Simone Hamm.

Laura Lichtblau: Sund
C.H. Beck, 2024.
130 Seiten, 22 Euro.

"Sund" von Laura Lichtblau

Lesestoff – neue Bücher 02.07.2024 05:43 Min. Verfügbar bis 02.07.2025 WDR Online Von Simone Hamm


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In Laura Lichtblaus zweitem Roman „Sund“ tauchen die Gespenster der Vergangenheit auf. Schon in ihrem Debütroman „Schwarzpulver“ kommen Gespenster vor. In „Sund“ hat sich die Ich-Erzählerin an einen Sund zwischen Dänemark und Schweden zurückgezogen, will an der Meerenge in Ruhe die NS-Vergangenheit ihres Urgroßvaters aufarbeiten. Sie wartet auf ihre Geliebte. Als die nicht kommt, macht sie sich auf den Weg zur Insel Lykke, von der nachts fremde Gesänge zu hören sind. Lykke bedeutet auf Schwedisch Glück.

Und so wirkt die Insel zunächst auch: wie die der Seligen. Dort lebt eine esoterische Kommune. Honig wird geschleudert, Maiskolben geerntet. Touristinnen kommen, können auf der Klangliege ihrer Urweiblichkeit nachspüren, in der Schwitzhütte alles Üble herausschwitzen. Sie erfährt mehr über das Ferienheim:

Auch Heldinnen gibt es en masse. Charmante Wegbereiterinnen der Erfolgsgeschichte des biologischen Anbaus, des Riech- und Testgartens und der Permakultur. Es gibt Lücken in ihren Biografien (…). Immer um dieselben Jahre herum, das ist seltsam. Die Insel erscheint uns wie ein Märchen: Seefahrt und Wunder und Verrat und Gesang und viele, viele Anekdoten.

Laura Lichtblau zieht die Gespenster der Vergangenheit ganz beiläufig hervor. Nichts kann die Ich-Erzählerin verwundern, nichts erschrecken. Lichtblaus Sprache bleibt kunstvoll, schön, stets exakt. Auch dass sie gendert, den weiblichen Plural für den allgemeinen benutzt, wirkt nie gewollt, immer organisch, immer gekonnt.

Die Ich-Erzählerin und die Frau, die sie auf der Fähre kennengelernt hat und die sie „die Neue“ nennt, kommen in einem Schlafsaal unter. Doch sie sind hier nicht willkommen. Ebensowenig wie das Balg mit den Greifhänden. Es ist klein, aber kein Kind. Es grinst. Als es beim Honigschleudern einen Fehler macht, wird es von „schlechte Laune Aksel“ angeraunzt, das Ferienheim auf der Insel sei genau deswegen erbaut worden, weil man Schwachköpfe wie das Balg verhindern wollte. Dass sie bisexuell ist, behält die Ich-Erzählerin da lieber für sich. Vielleicht ist das ja in Lykke ein Tabu. Oder Schlimmeres.

Das Schlimmste ist manchmal das Gefühl, allein zu sein in dieser Landschaft, die so karg und staubtrocken ist und bevölkert von Geistern. Sie hocken überall, und sie haben es bequem.

Die Geschichten der Insel Lykke und die des Großvaters verschränken sich. Auch in dessen Biografie enthielt Lücken.

Es ist das Umkreisen von Lücken, die nach dem Krieg geschaffen wurden. Ich kann mich ihnen aus allen Richtungen nähern, sie kleiner und kleiner werden lassen. Am Ende entsteht etwas wie ein Bild, dessen Ränder verbürgt sind. Das Zentrum, die Lykke, bleibt eine Ahnung.

Laura Lichtblau verbindet die persönliche Recherche über den Großvater kunstvoll und raffiniert mit der Vergangenheit der fiktiven Insel. Auf der Insel sind schon in den Zehner- und Zwanziger-Jahren des vergangenen Jahrhunderts Behinderte und Schwule zwangsterilisiert worden. Ihr Großvater war der Orthopäde Max Lange, der Menschen mit Klumpfüßen oder Hüftschäden, auch Kleinwüchsige „eugenisch sterilisieren“ wollte.

Sagen wir, die Vorfahr*innen, die Geister, werden Teil der Familien. Sagen wir, Gespräche wären möglich. Dann würde ich meinen Urgroßvater zu gerne fragen, ob er auch für die Sterilisation queerer Verwandtschaft gewesen wäre.

„Sund“ ist eine kluge, überaus gelungene Mischung aus Erzählung, literarischem Essay und Rechercheergebnissen. Auf knappen 135 Seiten erschafft Laura Lichtblau ein vordergründig schönes, aber eigentlich furchtbares Universum. Denn der Spuk ist noch lange nicht vorbei.

Die inklusive Beschulung von Kindern mit Behinderung, sagt der Thüringer AfD-Vorsitzende Björn Höcke 2023, sei ein Ideologieprojekt, von dem das Bildungssystem befreit werden müsse.

„Sund“ ist geschickt konzipiert, überaus spannend. Schritt für Schritt nähert sich die Ich Erzählerin der Wahrheit an. Ihre Sprache ist sehr eigen, phantasievoll und sehr angenehm zu lesen.