"Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten" von Slata Roschal
Stand: 27.06.2024, 07:00 Uhr
Variantenreiches Protokoll einer haltlosen Traurigkeit: Slata Roschals zweiter Roman verbindet schonungslose Innenansichten und genaue Gegenwartsbeobachtung. Eine Rezension von Dirk Hohnsträter.
Slata Roschal: Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten
Claassen, 2024.
176 Seiten, 22 Euro.
"Ich habe Angst zu leben, es rauscht an mir vorbei, alles, was so als real bezeichnet wird, und ich bin kein Teil des Zimmers, kein Teil des Hauses, der Straße, der Stadt, von nichts bin ich ein Teil."
Maria Nowak, die polnischstämmige Ich-Erzählerin von Slata Roschals neuem Roman, sitzt in einem Berliner Hotelzimmer und hadert mit ihrem Leben, ihrer Arbeit im Literaturbetrieb und ihrer Rolle als Mutter und Ehefrau. Das Übersetzerseminar, an dem sie teilnimmt, schafft ein wenig Abstand vom Alltag, der freilich gerade dadurch umso deutlicher hervortritt:
"Es ist ja alles gut, mit den Kindern, mit mir, mit mir und dir ja auch, eigentlich, es ist nur ständig dieses Eigentlich, ich spüre, dass da etwas verkehrt ist und das Äußere nicht das Innere ist, mir und den Kindern und mir und dir geht es gut, aber ich frage mich jeden Morgen, warum ich aufstehen soll."
"Eigentlich" ist das Schlüsselwort dieses Romans. Als erkunde die Autorin auf allen 176 Seiten, was hinter diesem Ausdruck steckt, umkreist sie ihn wie eine niemals auszufüllende Leerstelle. Zweiunddreißig Jahre alt, in einem ebenso freudlosen wie prekären Wohlstand lebend, ist sie erschöpft von ihrer Rolle als zweifache Mutter, kommt sich trotz leidlichem beruflichen Erfolg wie eine Hochstaplerin vor, begibt sich in Therapie und verliert sich doch in ihrer haltlosen Traurigkeit.
"Mir geht es meistens weder gut noch wirklich schlecht, mal so, mal so, jeweils auf ermüdende Weise, ich übe mich in Geduld, gieße Kürbisse auf der Terrasse, versuche Wutausbrüche zu vermeiden, die Wut nicht auf Unschuldige zu projizieren, denn wer hat schon Schuld, an irgendwas, wahrscheinlich bin ich die Einzige, die etwas vorausgesehen haben müsste, vorbereitet, ein Beispiel an innerer Ausdauer und ausgesprochener Freundlichkeit, so müsste es sein."
Dass dieses schonungslose Buch sich nicht in öden Innenansichten verliert, ist einer doppelten Kunstfertigkeit zu verdanken. Da ist zum einen die genaue Beobachtung des Milieus ihrer Protagonistin. Roschal seziert es ohne Rücksicht auf angesagte Deutungsmuster und ideologische Blickverengung. Als Eingewanderte sieht ihre Erzählerin die Dinge nüchterner:
"Entspannung auf Deutsch, das sind Klangschalen, Mantras, Kräuterbeete, Entspannung auf Polnisch, das ist Maniküre, Spiritus, Friseur, ich hasse Achtsamkeit und Resilienz, ziehe es vor, exzessiv und rücksichtslos zu konsumieren. Die einfachste, billigste, im übertragenen Sinn, Art von Freude, will alte Sachen wegschmeißen und neue Sachen kaufen, Sommerkleider, leichte Leggins, Leinentücher, koreanische Gesichtspeelings. Migration ist kein Hintergrund, weil es zu viel ist, um nur Hintergrund zu sein, es sind keine Wurzeln, die sich von einem Boden nähren, heimlich, tief unten."
Der zweite Kunstgriff besteht im formalen Abwechslungsreichtum des Buches. Beispielsweise lässt die Autorin immer wieder Verben aus, als ergäben die Sätze so wenig einen Sinnzusammenhang wie das Leben, von dem sie sprechen. Roschal arrangiert ihren Text aus Reflexionen, kleinen Szenen, Gedankenexperimenten, Episoden – und als imaginären Briefwechsel mit deutschen Amerikaauswanderern der 1920er Jahre. Auf diese Weise fügt sie ihrem Thema, der Kluft zwischen Erwartung und Erfüllung, eine weitere Ebene hinzu:
"Wir kamen als Ausländer und blieben Ausländer. Ich glaube, es hätte mir gutgetan, Mutter wenigstens einmal weinen zu sehen oder sagen zu hören, Ja, wir sind hier die Versager im System, vielleicht würde ich es mir dann ab und an erlauben, in kleinen, stressabschüttelnden Portionen, und wenn ich jetzt anfinge, könnte ich nicht mehr aufhören und es wäre kein Ende in Sicht, wobei es mir besser geht als Mutter und viel besser als Oma."
Slata Roschal ist ein ungewöhnliches Buch gelungen. In variantenreicher Prosa liefert es das schonungslose Protokoll eines ungreifbaren Weltschmerzes, der sich durch nichts beruhigen lässt. Es gibt, schreibt sie an einer Stelle, "keine Hashtags für das, was ich sagen will". Aber doch, möchte man hinzufügen, dieses bemerkenswerte Buch.