"Nochmal von vorne" von Dana von Suffrin
Stand: 08.03.2024, 12:00 Uhr
Dana von Suffrin hat mit "Nochmal von vorne" eine authentische Familiengeschichte geschrieben, die zeigt, dass man den Geistern der Geschichte des 20. Jahrhunderts manchmal nicht anders begegnen kann als mit Spott. Eine Rezension von Hannah Rau.
Dana von Suffrin: Nochmal von vorne
Kiepenheuer & Witsch, 2024.
240 Seiten, 23 Euro.
Wenn die Eltern sterben, ist die Kindheit endgültig vorbei. Sie müssen gar nicht besonders stark oder fürsorglich gewesen sein, mit ihrem Tod ist man niemandes Kind mehr. Dana von Suffrins neuer Roman ist die Geschichte einer Waise. Zwar ist die Protagonistin Rosa bereits erwachsen, als ihr Vater an den Folgen einer Krebserkrankung stirbt, doch sein Tod bedeutet für Rosa auch, alleine mit einer Familiengeschichte zu sein, die niemals jemand erzählen wollte.
Immerhin nicht ganz alleine. Eine Schwester gibt es noch, Nadja. Zu ihr allerdings hat Rosa schon mehrmals den Kontakt abgebrochen. Oder vielleicht war es auch Nadja, die den Kontakt abgebrochen hat – jedenfalls war sie es, die die Familie und damit die kleine Schwester verlassen hat.
"(I)mmer, wenn ich Nadja etwas mitzuteilen hatte, sagte sie dazu gar nichts, sie lachte nicht einmal, nichts davon ging sie das Geringste an, und beim letzten Mal, als ich sie anrief (vor drei Jahren), hatte sie sogar nur: Hallo? gesagt, und ich antwortete: Nadja, ich bin’s, und sie sagte: Wer?, und dann fragte sie noch einmal: Wer ist da?, und da wurde mir klar, dass Nadja nicht einmal meine Nummer eingespeichert hatte (…)."
Schon im Titel des Romans klingen die teilweise widersprüchlichen Vorhaben der Erzählerin an: "Nochmal von vorne", das ist das Versprechen einer Ordnung, aber auch der Wunsch nach Korrektur. Es ist der Versuch, aus lauter Lücken und traurigen Erinnerungen eine kohärente Familiengeschichte zu stricken. Eine deutsch-jüdische Geschichte, in der vor allem geschwiegen wurde.
Während Rosas deutsche Mutter Zeit ihres Lebens eine regelrechte Obsession für den Holocaust entwickelt hatte, schienen die Traumata des in Israel geborenen jüdischen Vaters stärker im Jom-Kippur-Krieg zu wurzeln als im Nationalsozialismus. Die Mutter sprach ohne Unterlass von der Schuld der Deutschen – wohl bemerkt ohne die individuelle Schuld der Groß- und Urgroßeltern ausdrücklich zu benennen.
Der Vater hingegen schwieg. Und so kann die Tochter nur erahnen, welche historischen Ereignisse seine Familie gebrochen haben müssen. Gefühle und Verletzungen beschreibt der tote Vater nur in Rosas wiederkehrenden Träumen:
"Ich hatte einen gewissen Ekel vor Hunden, sagt mein Vater, denn bei seinen Eltern in Rumänien haben nur die Bauern Hunde gehalten, und nach den Pogromen erzählte man sich, dass schon in der ersten Nacht die halbwilden Rudel in die Stadt gekommen seien. (…) Man sah sie fast nie, diese Hunde, sagt mein Vater, denn sie misstrauten den Menschen zu sehr, als dass sie sich den Siedlungen genähert hätten, aber in einer Nacht kamen sie in die Stadt, und entgegen ihren Gewohnheiten hätten sie sich nicht an den Fassaden entlanggedrückt, sie liefen glücklich und schwanzwedelnd durch die Straßen, und als sie den Toten die Arme aus den Gelenken gebrochen hatten, trugen sie sie wie Trophäen in die umliegenden Wälder."
Immer wieder flicht Dana von Suffrin Randnotizen der Weltgeschichte in ihren Roman. Ereignisse, die man mindestens googeln muss, um sie auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen. Etwa dass der rumänische Außenminister unbemerkt einen Herzinfarkt erleidet, während die Nationalsozialisten und die italienischen Faschisten ihn mit dem "Wiener Diktat" zwingen, Gebiete seines Landes an Ungarn abzutreten.
"Später beklagte die beauftragte Kommission, dass Hitler es versäumt hatte, seinen Blaustift anzuspitzen. Er war stumpf, und eine viel zu dicke Linie wurde nun zur Grenze, im Maßstab der Karte war sie sechs Kilometer breit geraten."
So leichtfüßig kommen Dana von Suffrins Anekdoten daher, dass man kaum glauben möchte, dass die Autorin promovierte Historikerin ist. In ihrem Roman spürt sie nach, wie Geschichte sich über Generationen hinweg in die Individuen einschreibt. Die Erzählhaltung changiert zwischen Schwermut und Witz. Spott wird zur Conditio sine qua non. Mit diesen Eigenschaften stattet sie auch ihre Protagonistin aus, die nicht aufhören kann, damit zu hadern, dass ihre Familie keine zum Liebhaben ist.
Dass es Rosa trotzdem gelingt, Verständnis für den schimpfenden Vater, die peinliche Mutter und schließlich sogar die abtrünnige Schwester aufzubringen, macht den Roman zu einer zarten und unglaublich authentischen Familiengeschichte.