"Du mußt gegen den Wind laufen" von Thomas Brasch
Stand: 13.01.2025, 07:00 Uhr
Gedankliche Schärfe und sprachliche Genauigkeit: Das in einem neuen Band zusammengetragene Prosawerk des 2001 verstorbenen Schriftstellers Thomas Brasch erweist sich als ein Werk von unverminderter Intensität. Eine Rezension von Dirk Hohnsträter.
Thomas Brasch: Du mußt gegen den Wind laufen. Gesammelte Prosa
Herausgegeben von Martina Hanf.
Suhrkamp, 2024.
877 Seiten, 42 Euro.
"1. Du mußt 5 Bücher auf einmal lesen können
2. Du darfst nicht rechnen können und abzählen
3. Du mußt auf dem letzten Loch laut pfeifen können"
Bereits die drei ersten der zehn Gebote aus dem Nachlass von Thomas Brasch machen klar: wer das Werk dieses Schriftstellers würdigen will, muss wissen: hier schreibt kein wohltemperierter, Ein-Text-nach-dem-anderen-Autor, sondern einer, der auf vielen Gebieten der Literatur eine intensive, fordernde Produktivität an den Tag gelegt hat.
Allein der jetzt erschienene Band, der das gedruckte und ungedruckte Prosawerk mit Ausnahme des umfangreichen Romankonvoluts "Mädchenmörder Brunke" enthält, umfasst weit über 800 Seiten. Die zwischen 1956 und 2000 entstandenen Erzählungen, Reden, Kritiken, Kommentare und Stellungnahmen zeugen von einem Schriftsteller, der sich zeitlebens an der Welt rieb und seine Texte einem Jahrhundert politischer Extreme abrang.
"Ich glaube, daß wir als Schriftsteller die Aufgabe haben, die Widersprüche, die wir empfinden, so laut und so wichtig zu formulieren, daß das Gespräch über den Frieden im Grunde überflüssig wird. Wir müssen diktieren, worüber gesprochen wird. Wir müssen die Lähmung unseres Lebens, die Kaninchen-Schlange-Situation, auflösen."
Es war seine Prosa, die letztlich dazu führte, dass Thomas Brasch 1976 von Ost- nach Westberlin wechselte und der sozialistische Staat den Unbequemen ziehen ließ. Zu drastisch waren die Eingriffe, die der Hinstorff Verlag von ihm verlangte, damit der Erzählungsband "Vor den Vätern sterben die Söhne" in der DDR erscheinen durfte. Konsequenterweise setzt die jetzt erschienene Prosa-Gesamtausgabe damit ein:
"Zuerst spürte ich seinen Kopf, der stark auf meine Blase drückte, und einige Minuten später den Schwanz, der in meinem Mund wedelte. Ich wollte nicht darüber nachdenken, wie der Wolf in mich hineingekommen war und warum er verkehrt lag. Ich stieg in die Straßenbahn 63 und fuhr zum Krankenhaus Friedrichshain. (…) Wenn wir den Wolf aus Ihnen herausnehmen, werden Sie sterben, sagte der Arzt. Ich stand auf und verließ den Operationsraum."
Die gedankliche Schärfe und sprachliche Genauigkeit von Thomas Brasch wird in der Auseinandersetzung mit anderen Autoren und den Klassikern oftmals besonders deutlich. So kommentiert er in einem Brief an den Regisseur Thomas Langhoff seine Übersetzung von Tschechows "Kirschgarten":
"alle sätze sind scharf und unverschämt gemeint. die leute beleidigen einander, um nicht über die eigentlichen dinge reden zu müssen. ihr small-talk ist der angriff, die verdrängung passiert bei tschechow anders als in deutschen konversationsstücken nicht in form der höflichkeit, sondern der beleidigung. die leute halten sich nicht von der grenze fern, sondern tanzen auf ihr herum, um sie nicht übertreten zu müssen."
Die editorische Erschließung auch der unveröffentlichten Prosatexte von Thomas Brasch sowie die sorgfältigen philologischen Anmerkungen der Herausgeberin Martina Hanf ermöglichen eine Neuentdeckung dieses außergewöhnlichen Autors. Das Buch präsentiert Texte von unverminderter Intensität und erinnert an einen Autor, der nie bereit war, die Widersprüche der Wirklichkeit zu glätten:
"Mitleid ist gratis zu haben. Der wehleidige Blick in die
Vergangenheit ist kein Ersatz für die Verweigerung einer Zukunft."