Buchcover: "Getäuscht" von Juri Felsen

"Getäuscht" von Juri Felsen

Stand: 16.01.2025, 07:00 Uhr

Ein russischer Marcel Proust? Juri Felsen erzählt in „Getäuscht“ von der unglücklichen Liebe eines Exilschriftstellers in Paris. Eine Rezension von Uli Hufen.

Juri Felsen: Getäuscht
Übersetzt aus dem Russischen von Rosemarie Tietze.
Kiepenheuer & Witsch, 2025.
272 Seiten, 26 Euro.

Das Wort Roman (oder "роман") hat im russischen eine doppelte Bedeutung. Einen Roman kann man lesen. Einen Roman kann man aber auch haben oder erleben, denn ein Roman ist auf Russisch auch eine romantische Liebesbeziehung. Als Juri Felsen Mitte der 1930er Jahre für sein mehrbändiges Hauptwerk den Titel "Roman mit einem Schriftsteller" vorsah, hatte er diese Doppelbedeutung im Sinn. "Getäuscht" ist der erste Teil dieses Großprojektes und liegt jetzt erstmals auf Deutsch vor.

Wir sind in Paris, Ende der 1920er Jahre. Welthauptstadt der modernen Kunst, Hauptstadt auch der russischen Emigration. Hier leben viele der älteren Stars der russischen Kultur, die sich noch in der Heimat einen Namen machen konnten. Hier sind von der Revolution enteignete Adlige zu Taxifahrern und Kellnern geworden. Hier aber wird auch eine junge Generation von Schriftstellern erwachsen. Zu dieser gehört der 1894 in Sankt Petersburg als Nikolai Freudenstein geborene Juri Felsen. Zu dieser gehört auch unser Erzähler. Er verbringt sein Leben, wie es sich für einen jungen Künstler gehört: geplagt von Geldnot, Selbstzweifeln und Größenwahn:

"Bedrängender als früher, schmachvoller empfinde ich aber, dass ich andern gleich bin, dass ich, genauso wie alle, leere Tage wegstecke, mich belanglos abquäle und, wie alle anderen, zu Recht einst verschwinden werde."

Die allergrößte Sorge aber gilt nicht Ruhm und Nachruhm, die allergrößte Sorge ist, dass mit knapp über 30 auch in Liebesdingen die besten Jahre schon vorbei sein könnten.

"Meine Liebesekstasen seien für immer zu Ende, zu Ende sei auch alles Persönliche."

Doch dann kündigt eine Berliner Bekannte in einem Brief an, ihre Nichte Ljolja käme schon bald nach Paris. Von Ljolja hat unser Erzähler schon viel gehört, er hat sogar schon mal eine Fotografie von ihr gesehen. Doch so groß die nervöse Fantasie unseres Helden auch sein mag – und sie ist sehr groß – nichts hätte ihn vorbereiten können auf die reale Ljolja.

"In der langsamen, linkischen Menge der Ankömmlinge erkannte ich, gleich unter den Ersten, Ljolja am Hermelinkragen und blauen Mantel, die mir angekündigt waren, und hätte sie ohnehin erkannt – so hatte Katerina Wiktorowna sie beschrieben und ich sie mir jahrelang vorgestellt: ein ungewöhnlich bleiches, wie überpudertes Gesicht, Augen, puppenähnlich aufgrund ihres porzellanhaften Blautons und ihrer langen, sich schwer senkenden Wimpern, und dazu, nach all dieser quasi künstlichen Unbeweglichkeit, ein überraschend nettes, blinzelndes, ironisches Lächeln. Ljolja ist zart und knapp mittelgroß, aber dermaßen gerade, mit derart elegant zielsicheren Bewegungen, dass sie groß und stark erscheint. Ohne Verlegenheit sprach ich sie an."

In seinem Tagebuch seziert der junge Mann die Vorgänge minutiös. Noch mehr aber seine Gefühlswelt, die ganze Liebesblödigkeit, das Auf und Ab, die Ängste, Hoffnungen, Pläne und Enttäuschungen. Denn die Sache ist die: Ljolja ist überaus charmant und klug. Sie ist aber auch viel selbständiger als erwartet und wie sich schnell zeigt, an einer romantischen Beziehung nicht interessiert. Und der Erzähler wird, wen wundert’s, immer nervöser, dümmer und peinlicher, je ferner die Erfüllung seiner Träume rückt. Er weiß es selbst am Besten.

Mit beispielloser Eleganz und Schärfe legt Juri Felsen die inneren Abgründe seines Alter Egos offen, immer wieder auch mit verblüffend-bittersüßem Humor. Vor allem aber tut er es in einer Sprache und in langen Satzkaskaden, die ihm in den 30er Jahren bei seinen russischen Zeitgenossen in Paris den Ruf einbrachten, ein russischer Marcel Proust zu sein.

An Ambitionen und Fähigkeiten zu einer ganz großen Karriere hat es Juri Felsen gewiss nicht gemangelt. Doch die Weltgeschichte und das Böse selbst in Gestalt der deutschen Besatzung standen dem im Wege. Die letzte Nachricht zu Lebzeiten über Juri Felsen stammt vom 13. Februar 1943, ist unterzeichnet vom Obersturmführer der SS Heinz Röthke und vermeldet den Abtransport von 908 Juden aus Paris nach Auschwitz. 80 Jahre später können wir Kinder, Enkel und Urenkel der deutschen Mörder Juri Felsen endlich lesen. Ein Geschenk.