Buchcover: "Der Absprung" von Maria Stepanova

"Der Absprung" von Maria Stepanova

Stand: 30.09.2024, 07:00 Uhr

Das eigene Land ein wildes Tier, das Exil komfortabel und doch traumatisch und die Kunst keine Hilfe mehr: Maria Stepanova eröffnet mit "Der Absprung" eine neue Epoche in der russischen Literatur. Eine Rezension von Uli Hufen.

Maria Stepanova: Der Absprung
Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja.
Suhrkamp, 2024.
141 Seiten, 23 Euro.

"Der Absprung" von Maria Stepanova

Lesestoff – neue Bücher 30.09.2024 05:26 Min. Verfügbar bis 30.09.2025 WDR Online Von Ulrich Hufen


Download

Die Welt ist aus den Fugen, ganz vorsichtig formuliert. Und wie immer geht die Sonne trotzdem jeden Morgen auf und kümmert sich wenig um das Unglück, das sie beleuchtet.

"Im Sommer 2023 wuchs das Gras weiter, als wäre nichts geschehen: es wuchs, als ginge es gar nicht anders, wie um ein weiteres Mal zu zeigen, dass es an seiner Absicht festhielt, aus der Erde zu sprießen, ganz egal, wie viel auf deren Oberfläche gemordet wurde."

Gemordet wird auch im Sommer 2023 an vielen Orten. Aber alle Gedanken der Schriftstellerin M., die gerade mit der Eisenbahn unterwegs ist zu einer Lesung, sind gefangen von dem, was sich in der Ukraine abspielt. Wobei die Ukraine in "Der Absprung" ebensowenig einen Namen hat, wie das Land, in dem die Schriftstellerin M. Zuflucht gefunden hat. Oder das, aus dem sie kommt:

"Dieses Land führte derzeit Krieg gegen ein anderes, benachbartes Land, es tötete dessen Bewohner mit Schusswaffen, mit Feuer vom Himmel und mit bloßen Händen, und es konnte und konnte weder siegen noch sich damit abfinden, dass das andere Land sich nicht fressen ließ."

Welche Länder gemeint sind, ist leicht zu entschlüsseln, genau wie die Stationen der Reiseroute, auf der M. gerade unterwegs ist. Denn die Sache ist die: M. hat Glück gehabt, Glück im Unglück. Sie musste ihr Land verlassen wegen des Krieges, aber sie hat genug Geld, ein neues Zuhause in einem Haus am See und sie wird regelmäßig in andere Städte und Länder eingeladen. Um aus ihren Büchern vorzulesen, vor allem aber, um über das Land zu sprechen, das sie inzwischen für ein böses Tier hält, für das sie sich schämt und aus dem sie kommt. Buchstäblich.

"Die Sache ist, dass das Tier weder vor mir noch hinter mir war […], es war immer um mich herum – und ich habe Jahre gebraucht, um zu erkennen, dass ich in ihm lebe und vielleicht sogar schon in ihm geboren wurde."

M.s Leben ist nicht in Gefahr. Aber das ändert nichts daran, dass ein großer Schmerz und eine existenzielle Verlorenheit über sie gekommen sind. M. weiß nicht mehr, wer oder was sie ist, sie hat schon lange nichts mehr geschrieben, sie bewältigt den Alltag, mehr nicht:

"Das Gefühl des permanenten Fallens, des körperlosen Hindurchstürzens durch Dinge und Menschen, immer tiefer und tiefer, unter pausenlosen lächelnden Entschuldigungen, war ihr inzwischen wenn nicht zur Routine, so doch vertraut geworden, und sie musste sich anstrengen, um sich zu erinnern, dass das nicht immer so gewesen war."

Denken, M. weiß es, ist ihre einzige Rettung. Und die Zugfahrt an diesem Tag ist lang. Aber dann passiert, was vielleicht passieren muss: Ein Eisenbahnerstreik verwandelt die Reise in ein Abenteuer, mit dem Akku des Handys sterben alle Verbindungen in die Realität und in die autofiktionale Erzählung von Maria Stepanova brechen offensichtlich fiktionale Personen und Begebenheiten ein. Sogar ausgewachsene Zauberkunststücke, Tarotkarten und ein Zirkus.

Das Ergebnis ist verblüffend: Denn urplötzlich zieht in dieses verzweifelte Buch eine Art Hoffnung ein. Nicht dass die Welt zur Besinnung käme, so weit zu träumen wagt Maria Stepanova vernünftigerweise nicht. Nein, aber Hoffnung immerhin, dass aus dem Morast der Gegenwart ein Weg in die Zukunft führen könnte. Dass M. ein Zaubertrick gelingen könnte, der am Anfang der Reise noch ganz unwahrscheinlich schien und dem Buch seinen Titel gibt:

"Auch mit fünfzig würde sie ihr Leben also noch bis zur Unkenntlichkeit verändern können, es neu zuschneiden auf eine Weise, die sie sich niemals zugetraut hätte."

Und so klappt man dieses schmale Büchlein über Krieg, Angst, Verlorenheit und Scham beseelt zu und staunt, was Literatur manchmal doch leisten kann. Zumindest in den Händen einer großen Dichterin wie Maria Stepanova. „Der Absprung“ ist ein kluges, schönes Buch voller literarischer Anspielungen und doppelter Böden. Und es könnte das Buch sein, mit dem eine neue Epoche in der russischen Literatur beginnt. Erzwungen hat den Beginn dieser neuen Epoche der Krieg. Aber der Krieg wird enden und die Literatur bleibt. Im Original ist "Der Absprung" übrigens in verschiedenen russischen Exilverlagen in diversen Ländern erschienen. Aber auch in Russland.