"Vierundsiebzig" von Ronya Othmann
Stand: 22.03.2024, 12:00 Uhr
Vor zehn Jahren beging die Terrormiliz des Islamischen Staats einen Völkermord an den Jesiden. Die Schriftstellerin Ronya Othmann dokumentiert in ihrem Roman "Vierundsiebzig" die Geschehnisse und erzählt die von Verfolgungen und Massakern geprägte Geschichte der christlichen Glaubensgemeinschaft. Eine Rezension von Wolfgang Schneider.
Ronya Othmann: Vierundsiebzig
Rowohlt Verlag, 2024.
512 Seiten, 26 Euro.
Der Völkermord an den Jesiden beginnt im August 2014 in der irakischen Region Shingal. Weil sie die Zwangsbekehrung zum Islam verweigern, werden sie umgebracht. Für die Gotteskrieger des "Islamischen Staats" ist die Tötung von Ungläubigen "halal". Ganze Dorfgemeinschaften werden ausgelöscht, viele Mädchen und Frauen verschleppt. Es gibt Sklavenmärkte in Rakka und Mossul, auf denen Jesiden verkauft werden.
"Vor 2014 kennt man die Eziden in Deutschland nicht. […] 2014 wissen die Leute, dass es Eziden gibt. In den Schlagzeilen aller Zeitungen ist von uns zu lesen. Berge, Staub und Menschen, die um ihr Leben rennen. Titelbilder. Tagesschau. Wir werden ermordet."
"Vierundsiebzig" ist Reportage, Essay, Reisebeschreibung – ein fünfhundertseitiges Buch über das Dokumentieren des Völkermords und der Versuch, eine Sprache dafür zu finden. Darüber hinaus will Othmann auch die vielen Verfolgungen der Jesiden im Lauf der Jahrhunderte vergegenwärtigen: Der Titel des Buches bedeutet, dass die Gemeinschaft 2014 bereits den vierundsiebzigsten historisch verbürgerten Massenmord erlebte.
Ronya Othmann reist in die kurdisch-jesidischen Gebiete, besucht Gedenkstätten und Flüchtlingscamps, trifft Verwandte und Freunde, manche knapp dem Morden entronnen. Sie hört den Überlebenden zu, wenn sie von der Terrorherrschaft des IS erzählen. Am Oberlandesgericht München verfolgt sie den Prozess gegen die deutsche IS-Anhängerin Jennifer W., die mit ihrem Mann, einem arabischen Dschihadisten, in Falludscha eine jesidische Frau versklavte und deren Kind verdursten ließ.
"Fast 6000 ezidische Frauen und Mädchen, lese ich, waren in IS-Gefangenschaft. Nahezu jede wurde vergewaltigt. Bis heute wurde nur die Hälfte aus der Gefangenschaft befreit oder konnte fliehen."
Auch wenn "Roman" auf dem Umschlag steht – "Vierundsiebzig" ist keiner, es gibt keine Spielfreiheit der Fiktion. Die Instanz des erzählenden Ichs ist dennoch wichtig, denn sie hält den ausufernden Text zusammen und macht das Umkreisen des Unbegreifbaren psychologisch plausibel.
Das größte Problem des Buches ist sein Ehrgeiz. Othmann belässt es nicht bei den Nöten der Jesiden, sie erzählt auch vom Völkermord an den Armeniern, von den Massenmorden Saddam Husseins, von der Folter in türkischen Gefängnissen und der nicht endenden Misere der staatenlosen Kurden. Ausgiebig referiert sie die Reisebeschreibung des britischen Archäologen Austen Henry Layard, der im 19. Jahrhundert die Jesidengebiete erkundete und bereits von grausamen Verfolgungswellen und der Versklavung zu berichten wusste.
So droht das Buch zu einem unübersichtlichen, seine Form nicht recht findenden Materialkonvolut zu werden. Die Rettung kommt im letzten Viertel. Othmann beschreibt hier in atmosphärischer Prosa, wie sie gemeinsam mit ihrem alle Religionen für Unsinn erklärenden Vater in die Gebiete der religiösen Fanatiker reist. In der nordirakischen Region Shingal nimmt sie die Orte des Völkermords in Augenschein, fährt mit beklommenen Gefühlen durch die Dörfer der vormaligen IS-Anhänger, unversehrt neben den zerstörten Orten der Jesiden. Überlebende berichten, wie sich viele arabische Nachbarn an den Morden beteiligten.
"IS-Kämpfer aus dem Ausland, das waren Zwanzigjährige aus Tschetschenien, China, Deutschland, Saudi-Arabien oder Libyen. Aber das, was uns angetan wurde, geschah mit Hilfe unserer sunnitischen Nachbarn. Sie haben ihnen gesagt: Das sind Eziden, Kuffar, Ungläubige. […] Es waren unsere Nachbarn, die uns verraten haben."
Auch wenn "Vierundsiebzig" durch etwas mehr Straffung und Formung gewonnen hätte – es ist gut, dass Ronya Othmann mit einer Gründlichkeit, die sich und ihren Lesern keine mildernden Umstände gönnt, das Massakrieren im Namen des Islam dokumentiert. Mit sogenannter "Islamophobie" hat das nichts zu tun. Denn eine Phobie ist ja die krankhafte Furcht vor etwas eigentlich Harmlosem.