Buchcover: "Muna oder Die Hälfte des Lebens" von Terézia Mora

"Muna oder Die Hälfte des Lebens" von Terézia Mora

Stand: 16.10.2023, 12:00 Uhr

Mit einzigartiger Präzision und erzählerischer Qualität erkundet Terézia Mora das Seelenleben einer jungen Frau auf dem Weg zur "Hälfte des Lebens" im Roman "Muna". Eine Rezension von Terry Albrecht.

Terézia Mora: Muna oder Die Hälfte des Lebens
Luchterhand Verlag, 2023.
448 Seiten, 25 Euro.

"Muna oder Die Hälfte des Lebens" von Terézia Mora

Lesestoff – neue Bücher 16.10.2023 05:38 Min. Verfügbar bis 15.10.2024 WDR Online Von Terry Albrecht


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"Nachdem sie meine Mutter mit Blaulicht weggebracht hatten, ging ich in den Hof, wo das Fahrrad stand, und schon wieder hatte es einen Platten. Ihr miesen Arschlöcher! Der Innenhof schallte."

Mit dieser expressiven Szene beginnt Terézia Mora ihren neuen Roman "Muna". Munas Mutter ist nach einem Suizidversuch ins Krankenhaus eingeliefert worden und der Tochter wurden die Fahrradreifen zerstochen. Sie kann nicht hinterherfahren. Gleich zu Beginn erleben wir ihren temperamentvollen Charakter. Die Szene spielt in Jüris, einem fiktiven Ort in der DDR. 1988, Muna ist 17, als der Roman beginnt, und Ende 30, als er endet. Eine Zeitreise vom Ende der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts hin bis zum Ende des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts wird im Folgenden ausgebreitet. Die Ausgangslage: Der Vater ist tot. Die Mutter Alkoholikerin und Schauspielerin. Muna ist überwiegend auf sich allein gestellt. Da taucht ein Mann auf.

"Da flitzte er an mir vorbei, so schnell und so nah, dass ich mich fast am eigenen Atem verschluckt hätte, als ich erschrocken stehen blieb, um nicht mit ihm zu kollidieren. Dabei stand ich noch oben auf der Brücke, und er fuhr unten, am Ufer, mit einem Fahrrad, dessen Rücklicht auf eine Weise funzelte, dass ich ihn überall daran erkennen würde: der Mann, in den ich seit mittlerweile 6 Monaten verliebt war. Ich wollte mich ducken, nicht dass er mich in dieser Aufmachung sah, aber ich hatte es noch nicht einmal zu Ende gedacht, da war er schon in der Dunkelheit verschwunden."

Bald darauf beginnt eine Amour fou – allerdings nur aus Munas Sicht – eines Paares, das unterschiedlicher in seinen charakterlichen Eigenschaften kaum sein könnte. Muna hat Magnus in einer Zeitungsredaktion kennengelernt, wo sie hospitiert und der Französischlehrer zusätzlich als Fotograf arbeitet. Während sie sich sofort in ihn verliebt, wirkt er von Anfang an in sich gekehrt, distanziert, geheimnisvoll. Obwohl die Zwei bald ein Paar werden, bleibt die Frage, liebt er sie überhaupt? Wunderbar und auch mit feinem Gespür für Situationskomik beschreibt Mora, wie die draufgängerische Muna es schafft, diesen störrischen Charakter zu "knacken", wie sie es selbst nennt.

Kaum ist das geschehen, verlieren sich die beiden aber auch schon wieder aus den Augen. Magnus kommt von einer Radtour im Jahr der Wende 1989 nicht zurück, ist verschollen. Sieben Jahre lang versucht Muna Magnus wieder aufzufinden, hat in der Zwischenzeit ständig wechselnde Beziehungen in der vom Machismo geprägten akademischen Welt und Jobs in Kneipen und Theatern, mit denen sie ihr Studium finanziert. Zudem wird die Ost-West-Thematik, die einen Hintergrund des Romans bildet, nur in kleinen Andeutungen an - aber nie auserzählt und ist gerade deshalb so überzeugend.

Als Muna Magnus im Berlin der 90er Jahre wieder findet, schreibt er an seiner Habilitationsschrift über "Männlichkeitskonstruktion" bei Hanns Henning Jahn. Muna promoviert über "Weiblichkeitskonstruktionen", obwohl sie im Gegensatz zu ihm überhaupt kein Wissenschaftstyp ist. Ein Seitenhieb Moras auf die Germanistik, wo jede wissenschaftliche Arbeit das Wort "Konstruktion" im Titel tragen muss, während sie in der Figur der Muna ein Erzählen aus dem prallen Leben dagegenhält.

Überallhin, zu all den Tagungen, die Magnus besucht, reist sie ihm nun nach, versucht ihn an sich zu binden. Dabei erträgt sie es, dass er immer mal wieder "weg" ist, Gewalt gegen sie ausübt und verschlossen bleibt. Als Magnus einmal in einem Lokal sein Weinglas umstößt und andere darüber lachen, reagiert er geradezu hilflos, überfordert.

"Ich sah, wie dieses Lachen Magnus noch mehr angriff als das Missgeschick zuvor. Seine Poren wurden groß und dunkel, als dehnte sich hinter seiner Haut die Schwärze aus. Ich wusste, dass nur ich das sehen konnte, die anderen sahen nur einen, den ein ausgelaufenes Weinglas so außer Fassung bringt, dass er seinen Mantel greifen und ohne ein Wort das Lokal verlassen muss."

Es ist dieser direkte, schonungslose Ton, in dem das Buch geschrieben ist und der Moras Erzählen so einzigartig macht. Die Erfahrungsseelenerkundlerin Terézia Mora taucht dabei tief in die Psyche Munas ein, lässt sie immer wieder in Klammersätzen mit sich selbst in den Dialog treten und uns Leser Zeugen der Gedankenwelt dieser jungen Frau auf dem Weg zur "Hälfte des Lebens" werden. So ist "Muna" ein sehr intimes Porträt einer nie aufgebenden und sich nur scheinbar unterwerfenden Frau. Sie durchschreitet unsere sexistisch aufgeladene Zeit erhobenen Hauptes und ist dadurch eine sehr emanzipierte, heutige Figur. Großartig.