Buchcover: "Die Projektoren" von Clemens Meyer

"Die Projektoren" von Clemens Meyer

Stand: 02.09.2024, 07:00 Uhr

Karl May und die Schrecken des Krieges im 20. Jahrhundert. "Die Projektoren", der neue Roman von Clemens Meyer ist vollgepackt mit Geschichte, er ist unterhaltend und er ist in seiner Form reflektiert, ein echtes Meisterstück. Eine Rezension von Mario Scalla.

Clemens Meyer: Die Projektoren
S. Fischer Verlage, 2024.
1056 Seiten, 36 Euro.

"Die Projektoren" von Clemens Meyer

Lesestoff – neue Bücher 02.09.2024 05:31 Min. Verfügbar bis 02.09.2025 WDR Online Von Mario Scalla


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Lex Barker, Pierre Brice, ein kleiner Mann mit Turban, der sich Hadschi nennt und an den unmöglichsten Orten auftaucht, ein Doktor May, der seine Spuren in einer Leipziger Heil- und Pflegeanstalt hinterlassen hat, dazu der Marschall Tito und eine Vielzahl rein fiktiver Figuren – Clemens Meyer hat einiges an Personal versammelt für einen Roman, der vom Zweiten Weltkrieg bis ins 21. Jahrhundert führt.

Einen klaren Handlungsbogen, der alles miteinander verbindet, sucht man vergebens. Es gibt viel Karl May und viel Krieg – und einen Autor, der es liebt, die Gegensätze und die historischen Epochen hart zu kontrastieren. Eine der Hauptpersonen ist ein Cowboy genannter Jugoslawe, der in den 40er Jahren Titos Partisanenbewegung aktiv war und sich am Ende des Jahrhunderts, nach der Auflösung Jugoslawiens, als Verfasser von Groschenromanen im Westen Deutschlands verdingt.

Weniger historisch, sondern explizit politisch wird es, wenn Clemens Meyer brennende Flüchtlingsheime in der Nachwendezeit oder rechte Netzwerke beschreibt, deren Mitglieder sich in die Schützengraben des Balkans der neunziger Jahre stürzen. Was also hält die Jahrzehnte und die Schauplätze zusammen? In einer Episode wurde Georg, ein junger Mann und Mitläufer bei den Neonazis in der DDR, von einer rechtsextremen Gruppe verprügelt:

"Die Stimme ist näher an Georgs verschwollenem Gesicht, er will wegkriechen, kann sich aber nicht rühren, so haben sie ihn geschlagen, seine Augen sind geschlossen, er kriegt sie nicht auf. Durch die Lider hindurch sieht er die Schemen der drei Gestalten, die er im Lager Buchenwald getroffen hat. Er versteht nicht, wie es möglich ist, dass drei Jugendliche in SA-Uniform durch das Lager marschieren, während einige Barackengänge weiter Pioniere, FDJ'ler, Pionierleiter, Parteisekretäre... Die Grausamkeit wandert durch die Zeit. Im Fieber verschieben sich die Träume."

FDJ'ler stehen neben Nazis, Reaktionäre neben alten Sozialisten. Wenn etwas über allem steht, dann ein Merksatz wie jener: „Die Grausamkeit wandert durch die Zeit“, vom Zweiten Weltkrieg zum Jugoslawien-Krieg und darüber hinaus. Meyer erzählt von der Gewalt, die das alte, an Krieg und Gewalt nicht gerade arme 20. Jahrhundert, dem neuen 21. vererbt.

Daneben gibt es einen dicken roten Faden. Anscheinend hatte der Autor entschieden, dass niemand in seinem Roman vorkommen darf, der nicht die Romane von Karl May gelesen hat, als Hauptfigur, wenigstens aber als Komparse in den Verfilmungen vorkommt, die in den 60er Jahren als deutsche Produktion auf jugoslawischen Boden stattfanden – wie der berühmte Lex Barker oder der nur Cowboy genannte jugoslawische Partisane, der einen kurzen Auftritt in einer kleinen Szene hat.

"Lex hatte den Krieg in Vietnam stets verteidigt, auch als er 1968 ein letztes Mal als Westernheld Old Shatterhand in Deutschland gewesen war, der Kommunismus musste doch aufgehalten werden. Er hatte den Kopf geschüttelt über die deutschen Antikriegsdemonstrationen in den Städten, in denen sie Winnetou und Shatterhand im Tal der Toten zeigten, die Premierenfeiern waren immer noch groß und rauschend, aber die jungen Leute gingen raus, skandierten "Amis raus aus Vietnam", so dass Lex, der als blutjunger Major der U.S. Army in Italien gelandet war, den Mantelkragen hochschlug und ins Hotel zurückging."

Lex Barker, Pierre Brice, der Hadschi, der noch hartnäckig nach seinem Sihdi sucht, als es längst keine Karl-May-Verfilmungen mehr gibt und Barker tot ist – Karl May Fans kommen in Meyers Roman voll auf ihre Kosten. Die Szene, wie Lex Barker 1964 im Privatkino des Marschalls Tito mit diesem zusammen die Verfilmung von „Der Wildtöter“ anschaut, in dem Barker die Hauptrolle spielt, gehört zu den schönsten in diesem an denkwürdigen Szenen nicht armen Roman.

Auch das Kino ist, wie der Titel „Die Projektoren“ andeutet, ein roter Faden, der sich durch das Buch zieht, ein magischer Ort, in dem abenteuerliche Geschichten erzählt werden. Der Titel ist dabei zweideutig. Projektoren sind in dem Roman auch Leute, die im übertragenen Sinn Licht verbreiten. „Die Projektoren“ ist ein von Erzählfreude übersprudelnder Roman, der ambitionierteste, den der Autor bislang geschrieben hat. Allein die Kombination der Gewalt- und Kriegsgeschichte des 20. Jahrhunderts mit den Phantasien des Karl May ist eine Idee, die mühelos durch die gut tausend Seiten trägt. Der Roman ist vollgepackt mit Geschichte, er ist unterhaltend und er ist in seiner Form reflektiert. Keine Frage, Clemens Meyer hat ein echtes Meisterstück abgeliefert.