"Die Klangprobe" von Siegfried Lenz
Stand: 09.04.2024, 12:00 Uhr
1990 erschien die Klangprobe mit einer Auflage von 100.000 Exemplaren. Siegfried Lenz war ein Publikumsliebling, die Kritik vom neuen Buch aber kaum begeistert. Die Gründe für beides lassen sich jetzt an der Neuauflage überprüfen. Eine Rezension von Peter Meisenberg.
Siegfried Lenz: Die Klangprobe
Hoffmann & Campe, 2023.
584 Seiten, 60 Euro.
Ziemlich am Anfang des Romans erklärt der 25jährige Ich-Erzähler Jan Bode, was es mit dem Titel des Romans, der "Klangprobe", auf sich hat, und zwar didaktisch sauber zuerst im eigentlichen und dann im übertragenen Sinn. Im eigentlichen ist damit gemeint, wenn ein Steinmetz vor der Verarbeitung einen Rohstein darauf überprüft, ob er fehlerfrei ist. Dazu schlägt er mit einem Holzschlegel gegen den Stein. Am Klang kann er hören, ob der Stein Risse oder lockere Schichten hat.
Der Erzähler kommt hinzu, als sein Vater, der Bildhauer und Steinmetz Hans Bode, an einem neuen Stein eine solche Klangprobe gerade erfolgreich vollzieht. Darauf erklärt der Alte seinem Gehilfen mit einem missbilligenden Blick auf den Sohn die übertragene Bedeutung:
"Man sollte sie auch für gewisse Leute einführen, die Klangprobe, dann bekäme man zeitig genug zu wissen, was in ihnen steckt, man könnte sich vor Überraschungen schützen."
Die Missbilligung des Vaters betrifft die Tatsache, dass Sohn Jan es nach dem erfolgreichen Examen nicht schafft, eine Stelle als Lehrer zu bekommen und sich stattdessen als Kaufhausdetektiv verdingt. Diese Berufswahl hat allerdings den Vorteil, dass es dem Autor so auf einigermaßen originelle Weise gelingt, die Handlung seines Romans in Gang zu setzen.
In seiner Eigenschaft als Kaufhausdetektiv beobachtet Jan Bode nämlich, wie eine hübsche junge Frau sich in der Lebensmittelabteilung eine Baguette unter die Jacke schiebt und damit ohne zu bezahlen hinausgeht. Er folgt ihr, getraut sich aber nicht, sie anzusprechen. Doch lernt er sie später kennen, nachdem er – welch glücklicher Zufall! – ihren bei ihr lebenden Neffen, den sechsjährigen Fritz, ebenfalls bei einem Diebstahl ertappt hat.
So bekommt er die Gelegenheit, Lone – so heißt die junge Frau – aufzusuchen, um ihr ein paar mahnende Worte zu sagen. Aber als er ihr dann bei einem Tässchen Tee gegenübersitzt, verschlägt es ihm fast die Sprache:
"Lone hatte ihren Pullover ausgezogen und trug jetzt eine seegrüne Bluse, die ihr verdammt gut stand. Ich möchte nicht zu viel sagen, aber so, wie sie mir gegenübersaß, hätte jeder englische Porträtmaler seine Freude an ihr gehabt – und ganz besonders an ihrem Hals, der so ziemlich der schönste Hals war, den man sich denken kann."
Es ist kaum zu glauben, aber dieser Roman erschien im Jahr 1990 – und nicht etwa 1890. Es ist auch kein seniles Alterswerk des Autors. Siegfried Lenz war bei seinem Erscheinen erst 64 Jahre alt und zu diesem Zeitpunkt wohl der am meisten gelesene deutsche Autor. Sein größter Erfolg, die "Deutschstunde", lag zwar schon etwas mehr als 20 Jahre zurück, aber vom neuen Roman versprach sich der Verlag immer noch einiges.
Die "Klangprobe" startete mit einer Erstauflage von sagenhaften 100.000 Exemplaren und wartet neben einer gemütvollen Familiengeschichte mit zeitgeistigen Themen der 1980er Jahre auf – wie etwa dem Steinzerfall durch sauren Regen.
Die Kritik verriss das neue Werk damals nahezu einhellig, vor allem wegen seiner betulichen Sprache: Lenz wird nicht müde, seinen Helden ein ums andere Mal ein biedermeierliches "Herr im Himmel!", "Großer Gott!" oder "Weiß der Kuckuck" ausstoßen oder sehnsuchtsvoll "Ach Lone!" seufzen zu lassen. Am härtesten urteilte damals Willi Winkler im "Spiegel": "Gnadenlos schlecht" sei das! Die Geschichte sei "Bauerntheater" im "schlichtesten Gemütsdeutsch".
"Wer derlei süßsauren Schicksalskitsch schätzt, weiß, was er an Lenz hat; er wird wie gewohnt bedient. Für die anderen ist die Geschichte zum Steinerweichen."
Mit dem Autor wird auch sein Publikum beschimpft. Aller Versuche zum Trotz, die Literaturkritik den Durchschnittslesern näher zu bringen, scheint im Fall Siegfried Lenz die Kluft zwischen den Bedürfnissen der Leserschaft und den Maßstäben der Kritiker unüberbrückbar.
Die "solide aufklärerische Güte", die viele von ihnen Lenz naserümpfend vorhalten, ist aber genau das, was seine nach wie vor große Gemeinde an ihm schätzt. Nicht von ungefähr steht seine "Deutschstunde" bis heute ganz oben auf den Lehrplänen für die Sekundarstufe II.
"Die Klangprobe" hat der Beliebtheit des Autors beim deutschen Lesepublikum keinen Abbruch getan, nicht trotz, sondern wegen ihrer sehr konventionellen Erzählweise, ihrem durchweg liebenswürdigen Personal und dem darin behaupteten Familienidyll: Die Sehnsucht, in der Literatur eine versöhnungsfähige Welt zu finden, scheint mächtiger als das Bedürfnis nach ästhetischer Herausforderung.