"Wir Gespenster" von Michael Kumpfmüller
Stand: 10.09.2024, 07:00 Uhr
Mordfall im Geisterreich: Eine Frau erwacht als Gespenst neben ihrer Leiche. Mit Hilfe eines toten Kommissars sucht sie nach ihrem Mörder. Kumpfmüllers Krimiplot verspricht Spannung, liefert aber vor allem öden Gespenster-Alltag. Eine Rezension von Oliver Pfohlmann.
Michael Kumpfmüller: Wir Gespenster
Kiepenheuer & Witsch, 2024.
256 Seiten, 24 Euro.
Was erwartet uns nach dem Tod? Wenn Michael Kumpfmüller recht hat, lautet die Antwort: nur eine Art Urlaubsversion unseres bisherigen Alltags. Denn für die Geister der Toten, die Kumpfmüllers neuen Roman bevölkern, ändert sich lebenstechnisch gesehen überraschend wenig. Außer natürlich, dass sie unsichtbar sind und sich nicht mehr um ihren Lebensunterhalt sorgen müssen.
"»Wir machen jeden Tag was«, erklärt Rita. »Gehen ins Kino, Theater, in die Oper, sitzen in Cafés und Restaurants und lachen über die Kümmernisse der Lebenden, machen Ausflüge.«"
Tatsächlich sind Kumpfmüllers Geister viel unterwegs, bevorzugt als Schwarzfahrer im Bus oder auf den Gepäckträgern ahnungsloser Radfahrer. Kumpfmüllers immaterielle Figuren beobachten heimlich ihre trauernden Angehörigen und führen untereinander mehr oder weniger tiefsinnige Gespräche, einige sogar in Selbsthilfegruppen. Sie können einander berühren und, wie Kumpfmüllers Hauptfigur Lilli erfahren darf, sogar lieben und Sex haben. Also Gespenstersex. Ist das nun tröstlich oder doch eher enttäuschend? Es ist vor allem überraschend langweilig. Und das, obwohl diesem Werk ein Krimiplot unterlegt ist.
Denn die Protagonistin wurde ermordet. Zu Beginn des Romans findet sich die etwa vierzigjährige Frau in ihrer neuen Existenzform in einem Park wieder, neben ihrer Leiche. Allerdings hat sie, wie jedes neugeborene Gespenst, keine Ahnung, wer sie ist bzw. war. Oder warum sie überhaupt nachts in diesem Park gewesen ist, noch dazu in einem auffallend roten Kleid. Oder wer sie ermordet haben könnte. Und noch weniger weiß Lilli, was es mit ihrem neuen Dasein als Geist auf sich hat. Zum Glück kommt ihr Andrä zu Hilfe, ein vor Jahren im Dienst erschossener melancholischer Kommissar. Andrä will – einmal Ermittler, immer Ermittler – Lillis Fall aufklären, zusammen mit seinem kafkaesken Mitarbeiterduo Karl und Karl. Vor allem aber hilft er der attraktiven Gespenster-Novizin, sich in ihrer neuen Existenzform zurechtzufinden.
"»Ich frage mich, wie lange das so weitergehen wird.« Dieses Gespensterleben, meint sie. »Ist es irgendwann vorbei?« »Irgendwann ja«, antwortet er, gibt sofort zu, dass er nicht viel darüber weiß, außer dass von Zeit zu Zeit jemand verschwindet, den man gekannt hat und der nicht wiederkommt. »Es gibt also ein zweites Ende«, sagt sie und zeigt sich erstaunt, dass er das gut und richtig findet."
Dass sich Gespenster, gerade wenn sie Opfer einer Gewalttat wurden, in einer Art Zwischenzustand wiederfinden, bis sie eines Tages durch ihren sozusagen "richtigen" Tod erlöst werden, ist keine neue Idee Kumpfmüllers. Man kennt sie zum Beispiel aus der BBC-Serie "Being Human", wie übrigens auch den Umstand, dass Gespenster immer genau das anhaben, was sie im Moment ihres Todes trugen, und seien es die Flügelhemdchen aus dem Krankenhaus. Im Roman schwebt dieses "zweite Ende" als stille Drohung über der sich langsam entwickelnden Liebesbeziehung zwischen Lilli und Andrä.
"Er würde gerne wissen, wie es zu Ende geht, ob man es im Voraus ahnt, ob man was spürt und was das dann wohl ist. Beinahe freut er sich ja darauf, unter der Bedingung, dass es interessant ist, und einigermaßen interessant stellt er es sich vor."
Leider bleibt einem diese Liebesbeziehung bis zuletzt genauso gleichgültig wie Kumpfmüllers Figuren. Das ist durchaus erstaunlich, schließlich hat es dieser Autor in der Vergangenheit schon geschafft, einem ausgerechnet Franz Kafka als großen Liebenden in Erinnerung zu bringen. Stattdessen plätschert die Handlung seines neuen Romans ziellos vor sich hin und besteht zu einem großen Teil aus einem enervierenden Hin und Her. Und aus Warten, etwa darauf, dass den Figuren eine Tür aufgemacht wird. Und das in einer mitunter seltsam hilflos wirkenden Prosa, die man von diesem erfahrenen Romancier nicht erwartet hätte.
Das Hauptproblem von "Wir Gespenster" ist freilich, dass in dem Roman die existenzielle Differenz zwischen Lebenden und Toten viel zu wenig literarisch produktiv gemacht wird – weil sie eben von Beginn an als quasi aufgehoben erscheint. Deshalb funktioniert "Wir Gespenster" weder als Krimi, noch als Liebes- oder gar Gespensterroman. Und schon gar nicht als der "leichtfüßig-philosophische Roman", den einem der Klappentext verspricht. Schade.