Hörbuchcover: "Jahrestage" von Uwe Johnson

"Jahrestage" von Uwe Johnson

Stand: 26.10.2023, 12:00 Uhr

Zwischen 1970 und 1983 erschien Uwe Johnsons vierbändiger Roman "Jahrestage" – eine umfangreiche literarische Aufarbeitung des 20. Jahrhunderts. Charly Hübner und Caren Miosga haben das Mammut-Werk als vollständiges Hörbuch aufgenommen. Eine Rezension von Christoph Vratz.

Uwe Johnson: Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Gelesen von Charly Hübner und Caren Miosga.
Der Audio Verlag, 2023.
8 CDs, 73h und 53min Laufzeit, 60 Euro.

"Jahrestage" von Uwe Johnson

Lesestoff – neue Bücher 26.10.2023 05:39 Min. Verfügbar bis 25.10.2024 WDR Online Von Christoph Vratz


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Eine Chronik kann erhellend sein, aber auch sperrig. Sie verknüpft Fäden der Vergangenheit mit Dokumenten und Fakten der Gegenwart – und wird so selbst ein Teil von Geschichte.

"Lange Wellen treiben schräg gegen den Strand, wölben Buckel mit Muskelsträngen, heben zitternde Kämme, die im grünsten Stand kippen."

So beginnen Uwe Johnsons "Jahrestage" – mit dem zeitlosen, schier ewigen Spiel der Wellen. Das Vage als bewusster Kontrast zur Genauigkeit, die eine Chronik verlangt.

"21. August, 1967. Montag. Aufklarendes Wetter in Nordvietnam erlaubte der Luftwaffe Angriffe nördlich von Hanoi. Die Marine bombardierte die Küsten mit Flugzeugen und feuerte Achtzollgranaten in die entmilitarisierte Zone."

Dieser 21. August ist der erste von 366 "Jahrestagen", die das formale Gerüst von Uwe Johnsons Roman bilden. Gesine Cresspahl ist 34 Jahre alt. 1961 kam sie nach New York, nun arbeitet sie dort in einer Bank.

"Sie wohnt am Riverside Drive in drei Zimmern, unterhalb der Baumspitzen. Das Innenlicht ist grün gestochen. Im Süden sieht sie neben dichten Blattwolken die Laternen auf der Brücke, dahinter die Lichter auf der Schnellstraße."

Gesine hat eine Tochter, Marie. Sie ist knapp zehn Jahre alt, geht auf eine strenge Klosterschule und gibt sich gelegentlich widerspenstig. Als Marie immer häufiger nach ihrem Vater fragt (er ist tot), beginnt Gesine die Geschichte ihrer Herkunft zu erzählen – es ist das Protokoll einer langen Familiengeschichte.

Mit gleicher Genauigkeit werden im Roman die historischen Ereignisse zwischen August 1967 und August 1968 gegenübergestellt, meist anhand von Nachrichten aus der "New York Times".

"26. August 1967. Sonnabend. Zwei Unteroffiziere der Armee sind verhaftet, weil sie Herrn Popov von der Sowjetischen Botschaft und Herrn Krejew von den Vereinten Nationen geheime Dokumente übergeben haben [...]."

Die "Jahrestage" erzählen rückblickend von vier deutschen Staaten (Weimarer Republik, Drittes Reich, das zweigeteilte Deutschland), und von einer globalisierten Gegenwart: Amerika, Vietnam, Europa. Immer wieder kommt es zu knappen Dialogen, etwa im Rahmen der Studentenrevolten 1968:

"'Gesine, bist du nicht einverstanden mit den Studenten?' 'Oh, einverstanden.' 'Siehst Du. Sie wollen ihre Universität verbessern, und so lange sie geredet haben, nun tun sie etwas, man kann es sehen.'"

Für jeden Sprecher, für jede Sprecherin ist Uwe Johnsons Roman eine Mammut-Hürde. Zum einen wegen der rein stofflichen Menge, zum anderen wegen der vielen Figuren, die hier – direkt oder indirekt – auftreten; und zum dritten wegen des oft trockenen Chronik-Tonfalls.

Caren Miosga kennen wir als Moderatorin der "Tagesthemen". Unstrittig daher, dass sie für die vielen Zeitungs-Nachrichten, die Johnson in seinen Roman montiert hat, eine ideale Besetzung ist. Weniger glücklich, weniger erfahren, agiert sie in den Mutter-Tochter-Dialogen, die sich oft spontan entladen, die voller Konfliktpotenzial stecken und von daher die eine mehr schauspielerische Darstellung verlangen. Der andere Sprecher dieses Hörbuchs ist Charly Hübner.

"Das war in Itzehoe vor ein paar Wochen. Die Nazis hatten am Oesauer Berg eine Versammlung, und als die Kommunisten über sie herfielen, was hatten sie mitgebracht? Ja, Stielrungen, Mistgabeln, Fahrradketten, Stacheldrahtkeulen, Nägelstöcke, Gummiknüppel."

Ob beim Politisieren – wie hier die Vätergeneration von Gesine –, ob in den eher berichtenten Passagen oder in den Passagen mit Dialekt: Hübner verfügt über ein großes Maß an Wandlungsfähigkeit und Präsenz. Er ist ein Erzähler, der unterschiedlichste Gefühle mit seiner Stimme ausdrücken kann – oder demonstrativ mit ihnen hinter dem Berg hält.

Zugegeben: Johnsons "Jahrestage" sind keine Schnellkost. Wer sie bislang noch nicht gelesen hat, findet mit diesem Hörbuch eine ideale Einstiegs-Hilfe. Und wer mit dem Roman, der gerade in den 1970er und 80er Jahren oft heißt diskutiert wurde, bereits vertraut ist, kommt ebenfalls auf seine Kosten und erhält neue Einblicke.