Buchcover: "Hundeherz" von Hiromi Itō

"Hundeherz" von Hiromi Itō

Stand: 03.07.2024, 07:00 Uhr

In Kalifornien stirbt die Schäferhündin Take, in Japan der geliebte Vater. Hiromi Itō erzählt eine unvergleichliche Familiengeschichte. Eine Rezension von Ulrich Hufen.

Hiromi Itō: Hundeherz
Aus dem Japanischen von Irmela Hijiya-Kirschnereit.
Matthes & Seitz Berlin, 2024.
237 Seiten, 20 Euro.

"Hundeherz" von Hiromi Itō

Lesestoff – neue Bücher 03.07.2024 05:17 Min. Verfügbar bis 03.07.2025 WDR Online Von Ulrich Hufen


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In einem Interview erklärte die japanische Dichterin Hiromi Itō kürzlich den schillernden buddhistischen Begriff „saha“: Saha ist so etwas wie das Gegenteil von Nirvana. Die irdische Welt als unerschöpfliche Quelle von Leid, aber auch: von Freude. Inhaftierte japanische Kriminelle benutzen den Begriff, so Itō, um die Welt außerhalb des Gefängnisses zu beschreiben. Es ist wohl diese fabelhafte Gelassenheit im Umgang mit Schmerz und Tod, die am Besten die kleinen Wunder erklärt, die sich in Hiromi Itōs Buch „Hundeherz“ ereignen.

Wir sind im Süden Kaliforniens, wohin Itō mit ihren Töchtern Kanoko, Sarako und Tome vor 15 Jahren gezogen ist. Zur Familie gehören außerdem der streng riechende Schuppenpapagei Pi-Chan, der fünfjährige Papillon-Rüde Nico und ein zunächst nur kurz als „ziemlich widerwärtiger Hundehasser“ eingeführter Ehemann, von Beruf Künstler und sehr alt. Außerdem: Take, die eigentliche Heldin der Geschichte und Besitzerin des titelgebenden „Hundeherz“.

 

Ich sollte mich wohl beeilen mit dem Schreiben, bevor mich Take allein zurücklassen wird. Take ist eine Deutsche Schäferhündin im reifen Alter von dreizehn Jahren. Und ich ein Mensch von sechsundfünfzig, als Hund wäre ich längst tot.

Take wog zu ihren besten Zeiten 40 Kilo und verteidigte Frauchen und Kinder leidenschaftlich gegen alle Welt.

Take war groß und stark, und meistens wurde der andere Hund verletzt. Ich musste mich häufig entschuldigen und des Öfteren auch für die Behandlung bezahlen (…). Jetzt ist Take blind und taub und kann keinen der geworfenen Zweige mehr apportieren. Jetzt gehen Take und ich nicht mehr den Abhang hinunter. Denn sonst müssten wir ihn ja wieder hochklettern. Es gibt zwei Wege – einen steilen, kurzen Anstieg und einen längeren, langsameren –, aber beide werden für Take immer mühsamer.

Ohne jede Scheu, falsche Scham und auch ohne jede Sentimentalität beschreibt Hiromi Itō den Verfall des geliebten Tieres. Take wird von Tag zu Tag schwächer, die Sinne versagen und bald auch Blase und Schließmuskel. Es riecht nicht gut in diesem Buch. Aber es stört niemanden. Und mehr noch: Wie jedes Kind weiß auch Hiromi Itō, dass die fragilen Funktionen von Körpern und Ausscheidungen aller Art exzellentes Material für Humor sind. Und Humor wiederum ist eine unersetzliche Hilfe im Umgang mit Schmerz. Ein Sturz tut weh, er ist auch Slapstick.

Die Spaziergänge werden immer kürzer. Sie schafft es nicht mehr, bergauf oder über Stufen zu gehen. Geradeaus geht auch nicht mehr. Immer wieder fiel sie von der Gehwegkante, wenn ich sie einmal aus dem Blick ließ, und konnte nicht mehr aufstehen.

Aber da ist noch mehr. Während Take ihre letzten Markierungen auf dieser Erde hinterlässt, stirbt im fernen Japan langsam auch Hiromi Itōs Vater. Die Tochter fliegt hin, so oft sie kann. Aber sie fühlt sich schuldig, weil der Vater nur den treuen Hund Louis zur Gesellschaft hat. Ein Hund und ein Mensch sterben, die Parallelen sind unübersehbar.

Mein Vater ist so schwach, dass er mit offenem Mund schläft, wie eine Mumie kurz vor der Vollendung. Take liegt mit schlaffen Gliedmaßen da, wie ein toter Kojote am Straßenrand. Ihr Kopf gleitet vom Hundebett herab. Immer wieder am Tag drängt es mich, nachzuschauen, ob sie noch am Leben ist.

Immer wieder zieht die Erzählerin Vergleiche wie diese zwischen Mensch und Tier. Die greise Hündin erinnert an den greisen Vater. Sie erinnert aber auch an die schon vor Jahren verstorbene Mutter. Und an eine Tante, die – einst überaus korpulent – kurz vor ihrem Tod sehr schlank wurde. So wie Take. Und nie wirken diese Vergleiche respektlos oder falsch. Ohne je sentimental oder furchtsam zu werden, wie so viele Menschen im Angesicht des Todes, verhandelt Hiromi Itō Fragen, vor der wir alle stehen oder stehen werden.

Irgendwann stirbt der Vater, kurz darauf Take. Tome zündet Weihrauch an, Sarako stellt einen Topf Orchideen neben den toten Hund. Aber Take ist nicht mehr da. Und dann geht das Leben weiter. Hell und dunkel, mit Freude und Leid. Und wer Hiromi Itōs ruhiges, warmes und unendlich kluges Buch liest hat darüber auf wundersame Art Grundlegendes gelernt. Ganz sanft.