Buchcover: "Bei den Minderen Brüdern" von Andreas Heidtmann

"Bei den Minderen Brüdern" von Andreas Heidtmann

Stand: 06.09.2024, 07:00 Uhr

Schulzeit in einem christlichen Internat im Ruhrgebiet. Gesucht wird ein Kompromiss zwischen den Regeln der Franziskanermönche, der „Minderen Brüder“, und den Lebenserwartungen der heranwachsenden Schüler. Eine Rezension von Jutta Duhm-Heitzmann.

Andreas Heidtmann: Bei den Minderen Brüdern
Frankfurter Verlagsanstalt, 2024.
320 Seiten, 24 Euro.

"Bei den Minderen Brüdern" von Andreas Heidtmann

Lesestoff – neue Bücher 06.09.2024 05:25 Min. Verfügbar bis 06.09.2025 WDR Online Von Jutta Duhm-Heizmann


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So hat er sich dieses Jahr wirklich nicht vorgestellt: Ben Schneider, Gymnasiast der Obersekunda – heute 11. Klasse –, findet sich plötzlich im Kloster wieder, einquartiert in einem Konvikt der Franziskanermönche, der „Minderen Brüder“.

"Das Zimmer mit dem Blick auf die Reste des alten Stadtwalls hätte mir gefallen, wäre es kein Internatszimmer gewesen. (…) Immerhin, die Fenster waren nicht vergittert. Dass der sparsam möblierte Raum wenig Einladendes bot, traf meine Stimmung."

Und die ist mehr als gedrückt: die Mutter wegen ihrer tiefen Depression in einer psychiatrischen Klinik. Der Vater wenig alltagstauglich. Ben selbst erst einmal ausgelagert. Seine Freundin Rebecca in einer anderen Stadt, nur mühsam telefonisch zu erreichen, denn das Telefon wird streng bewacht von Pater Albert, der bei seiner Dauerbeschäftigung Kreuzworträtsellösen ungern gestört wird.

"Am Ende boten vielleicht auch schlichte Formen des Rätsellösens einen Weg zu geistiger Erkenntnis. In jedem Fall hätte ich eine Frage beisteuern können, die selbst für einen Pater nicht schwer zu beantworten gewesen wäre: großes Gefühl mit fünf Buchstaben."

Nur dieses große Gefühl, die Liebe, macht Ben das klösterliche Internatsleben erträglich: die zu Rebecca und die zur Musik. Rebecca ist weit weg, doch im Musikzimmer steht ein Flügel, an dem er sich austoben kann, je nach Stimmung mit Klassik, Jazz oder Rock. Die Patres sind beeindruckt, doch er selbst wird zum Hassobjekt einer aggressiven Schülergang. Sie schlagen ihn zusammen.

"Vorsichtig befühlte ich die Finger meiner Rechten. Krümmte sie. Spielte fünf Töne in die Luft. Was viermal problemlos gelang. Beim Ringfinger fehlte die Leichtigkeit. Ich sah mir nach, dass ich losheulte."

Andreas Heidtmann ist kein Autor für dramatische Entwicklungen. Seine drei letzten Bücher – „Als wir uns lange Zeit nicht küssten“, „Plötzlich waren wir sterblich“ und jetzt eben „Bei den Minderen Brüdern“ – sind leicht verfremdet autobiographisch. Ben Schneider, sein Alter ego, durchlebt eine Jugend ähnlich der vieler anderer, die in den 70er Jahren im Ruhrgebiet aufgewachsen sind. Träume von Aufbruch und einem neuen Leben, allerdings nicht als Aussteiger, sondern erst nach dem Abitur. Gemäßigte Provokation durch Musik, mit bewunderten Vorbildern wie Janis Joplin, Jimmy Hendrix, Pink Floyd, eine eigene kleine Band, die „Crazy Hearts“,

"die hoffnungsvollste Band zwischen Lippe und Ruhr, gegründet in einer alten Ziegelei und immer noch in der Ursprungsformation mit Tim, Nico, Sven, Patrick und mir. Eigentlich hätte man noch Lina hinzurechnen müssen. Immerhin sorgte sie mit ihrer Schminkkunst dafür, das wir ein bisschen so aussahen, als reisten wir gerade aus London oder Liverpool an."

Doch sie leben nun mal in Dorsten oder Lippfeld, und was immer sie tun, verlässt selten den bürgerlichen Rahmen, mit der Familie als Zentrum, Liebesglück und Liebeskummer inklusive. Der Roman bleibt ganz nah an der Hauptfigur, die sich zwar in der Zeit verortet, aber nur selten den eigenen Erlebnisraum verlässt, politische Entwicklungen oder ideologische Kämpfe spielen kaum eine Rolle.

Nur auf einem Gebiet, der Musik, weitet sich der Blick. Da spürt man die Energie und die Unbedingtheit, die den Autor Andreas Heidtmann später zum Klavierstudium treiben wird, und die forschende Nachdenklichkeit, die ihn auch zur Literatur bringt.

"Mir lag nichts daran, Hoffnung zu hegen, abgesehen von der, dass mir von Zeit zu Zeit ein neuer Song gelang, der allen und niemandem gehörte."

Ein sympathisches Buch mit einem hohem Wiedererkennungswert für die Gleichaltrigen und Bestätigung für die später Geborenen, weil sich manches im Ruhrgebiet seit den 70er Jahren eben doch nicht verändert hat. Obwohl sich schon damals der wirtschaftliche Umschwung abzeichnet, die Zerstörung der alten Strukturen: das Konvikt muss einem großen Kaufhaus weichen. Und mit den Abriss landen auch die Regeln der barmherzigen „Minderen Brüder“ im Staub.

"Ich konnte nur hoffen, dass die Verehrer des heiligen Franziskus für den Rest ihrer Ordenszeit schlecht schliefen."