Anne Tyler: Drei Tage im Juni
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Michaela Grabinger
Kein & Aber, 208 Seiten, 23 Euro.
Die drei Juni-Tage, die Anne Tylers neuem Buch den Titel geben, werden das Leben von Gail und Max ordentlich durcheinanderbringen. Dabei hatten die beiden Anfang Sechzigjährigen, die seit vielen Jahren getrennt leben, nichts dergleichen geplant. Doch dann ist Max zur Hochzeit ihrer gemeinsamen Tochter Debbie überraschend mit einer Katze angereist und weil der Bräutigam allergisch ist, quartiert er sich bei seiner Ex-Frau ein:
"Ich machte Platz und er stapfte schnaufend ins Haus und brachte die Dielenbretter zum Federn. Max war zwar keineswegs dick, aber wuchtig, breitschultrig; er machte immer den Eindruck, mehr Raum für sich zu beanspruchen, als ihm zustand, obwohl er nicht wesentlich größer war als ich. In den Jahren seit unserer Scheidung hatte er sich einen Bart wachsen lassen, ob absichtlich oder nicht; vielleicht hatte er auch nur eine Zeit lang vergessen, sich zu rasieren. (…) Und in Hinblick auf seine Kleidung hatte er offenbar kapituliert. Sein Standard waren ausgeleierte Strickoberteile und weite Khakihosen. Hoffentlich hatte er für die Hochzeit einen Anzug dabei. Bei ihm wusste man nie."
Obwohl schon lange getrennt, reagieren Gail und Max wie ein altes Ehepaar auf die ewiggleichen Macken und Schrullen des anderen; zugleich zeigt sich aber hinter der oberflächlichen Genervtheit auch eine tiefe Verbundenheit. Gail ist ohnehin empfindlich, weil ihr völlig unerwartet als langjährige stellvertretende Schuldirektorin gekündigt wurde, wegen angeblich mangelnder Sozialkompetenz. Und dann taucht auch noch Debbie völlig aufgelöst bei ihr zu Hause auf, nachdem sie von einem noch nicht lang zurückliegenden Seitensprung ihre Verlobten Kenneth erfahren hat:
"'Also nehmen wir an, es stimmt'“, sagte Max zu Debbie. 'Rein hypothetisch, wohlgemerkt. Machen wir die Sache doch nicht größer, als sie ist. Ich meine, so was kommt eben vor, Deb. Bammel vor der Hochzeit, ein Techtelmechtel im letzten Moment (…). Das ist nicht das Ende der Welt.' (...) Debbie dreht sich blitzschnell zu ihm. 'War ja klar, dass du das sagst! Männer halten so was ja immer für völlig normal, für das Normalste der Welt', sagte sie. Dann drehte sie sich zu mir. 'Die Hochzeit wird natürlich abgesagt.'"
Ob die Hochzeit wirklich abgesagt wird oder nicht, was aus der Katze wird und wie sich das Verhältnis von Gail und Max entwickelt, muss hier gar nicht verraten werden. Denn Anne Tyler entwickelt aus diesem dramatischen Auftakt das ebenso feinsinnige wie humorvolle Porträt eines Frauenlebens. Denn vieles, was Gail in diesen drei Juni-Tagen erlebt – ob es ein misslungener Friseurbesuch ist oder der Kauf eines Anzugs für den Brautvater – löst bei ihr Erinnerungen an frühere Episoden ihres Lebens aus: An die ersten Begegnungen mit Max, der sie ausdauernd umworben hat, an die ersten Jahre und einen folgenschweren Seitensprung. Wie immer bei Anne Tyler ergeben sich die großen Fragen des Lebens ganz beiläufig, aus der scheinbaren Banalität des Alltäglichen:
"Nach wenigen Minuten hörte ich die Tür aufgehen. Der senkrechte Lichtstreifen entlang der Kante wurde breiter, und die Katze tappte herein. (…) Das Komische war: Eine halbe Sekunde lang hatte ich angenommen, das an der Tür wäre Max, und ich hatte mich schon empört: Hat man denn nie seine Ruhe vor diesem Menschen? Wut ist ein viel angenehmeres Gefühl als Traurigkeit. Reiner irgendwie und konkreter. Doch wenn die Wut verraucht, ist die Traurigkeit so schnell wieder da, als wäre sie nie weg gewesen."
Anne Tyler ist eine warmherzige und genaue Menschenkennerin, die dennoch immer genügend Abstand zu ihren Figuren hält, um das Komische aus ihrem Unvermögen herauszukitzeln. Wie die verschlossene, etwas unbeholfene Gail sich schließlich den Möglichkeiten des späten Glücks doch noch zu öffnen vermag, ist so tröstlich wie amüsant und auf jeden Fall so schön zu lesen, dass man dieses herzzerreißende schmale Büchlein gleich noch einmal von vorne lesen möchte.