Buchcover: "Die Intuitionistin" von Colson Whitehead

"Die Intuitionistin" von Colson Whitehead

Stand: 16.08.2024, 17:11 Uhr

Schon mit seinem jetzt übersetzten Debüt "Die Intuitionistin" hat der zweifache Pulitzer-Preisträger Colson Whitehead einen rätselhaften, aber sehr eingängigen Roman vorgelegt. Eine Rezension von Marie Schoeß.

Colson Whitehead: Die Intuitionistin
Übersetzt aus dem Englischen von Henning Ahrens
Hanser, 272 Seiten, 26 Euro.

"Die Intuitionistin" von Colson Whitehead

Lesestoff – neue Bücher 21.08.2024 05:17 Min. Verfügbar bis 21.08.2025 WDR Online Von Marie Schoeß


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Lila Mae Watson ist Fahrstuhl-Inspektorin, die erste Schwarze Frau in diesem Job und stolz auf ihren Aufstieg. Aus den Südstaaten ist sie in die Stadt gezogen, die wie keine andere für Aufbruch und Modernität steht. New York, der Name fällt nicht, wie auch das Jahr der Handlung nicht klar benannt wird. Und doch ist klar, dass Lila Mae genau hier, in New York, einen neuen Anfang wagt – und das in einer Zeit, in der rassistische Begriffe wie "colored" ganz selbstverständlich gebraucht werden.

"Lila Mae war ab und zu im O’Connor’s, wenn ein Baseballspiel oder ein Boxkampf übertragen wurde, und bei jedem Jubeln sah sie sich nach einer potenziellen Waffe um. Da hilft es wenig, dass der Wirt stets mit einer großen Messingglocke läutet, wenn ein Gast kein Trinkgeld gibt; sie erschrickt jedes Mal. Sie erschrickt bei diesem Geräusch und auch bei dem der Startpistole, mit der hier Streit unterbunden wird, etwa hitzige Debatten über die diversen Vor- und Nachteile der Kühlung der Bremssysteme von United Elevator. Die Leute können jederzeit tollwütig werden; das ist das wahre Resultat verbesserter Integration: Der sichere Ausbruch von Gewalt wird durch den verzögerten Ausbruch von Gewalt ersetzt."

Colson Whitehead hat sich für diese Protagonistin ein irrwitziges Szenario ausgedacht: Er verstrickt sie in einen Kriminalfall, lässt einen Fahrstuhl – just von ihr überprüft – im freien Fall abstürzen. Ausgeschlossen, dass sie etwas übersehen hat, denn:

"Sie irrte sich nie."

Also muss detektivisch alles andere durchgespielt werden: Wer könnte ihr schaden wollen? Einer Schwarzen Frau, die aufsteigt? Was hat dieser Fall mit den zwei Lagern unter den Fahrstuhl-Experten zu tun? Es gibt die die Empiristen – die jede Schraube von Aufzügen kontrollieren – und die Intuitionisten – die das Kontrollieren intuitiver angehen – und gerade stehen sich die beiden Seiten so verfeindet gegenüber wie heute Demokraten und Republikaner.

"Ich bin in New York City aufgewachsen und da gab es ein Gesetz, nach dem Aufzüge dieses Inspektions-Zertifikat aufweisen müssen, das ich im Buch beschreibe. Und ich dachte: Wäre es nicht witzig, wenn ein solcher Aufzugs-Inspektor einen Kriminalfall lösen müsste? Also bin ich in die Bibliothek, habe nachgelesen, was ein solcher Inspektor an Fähigkeiten für einen Kriminalfall mitbringen würde. Und die Antwort war – natürlich – keine. Der inspiziert halt Aufzüge. Also dreht sich das Mysterium jetzt um Aufzüge und ich musste eine Welt erfinden, in der Aufzüge sehr wichtig sind. Eine alberne Idee, nüchtern durchgezogen."

Albern nur auf den ersten Blick, denn je länger Colson Whitehead diese Idee durchzieht, umso vielschichtiger und produktiver wird sie. Das Spiel mit Hell und Dunkel, schwarz, weiß, oben, unten, Absturz und Höhenflug steckt im Aufzug. Gleichzeitig ist es das Symbol der Großstadt, ein Vehikel, ohne das modernes urbanes Leben nie möglich wäre.

"Eine banale Entscheidung also: Wäre das witzig, eine postmoderne Detektivgeschichte mit einem Aufzugsinspektor als Protagonisten? Aber als ich begann, darüber nachzudenken, wurde der Aufzug keine rhetorische Spielerei, sondern eine Quelle von Metaphern ganz verschiedener Art."

Überhaupt entwickelt der Roman "Die Intuitionistin" eine enorme Tiefenstruktur. Eine Detektivgeschichte ist er nur auf den ersten Blick, nur oberflächlich ein lustvolles Spiel mit dieser hoch-regelhaften Literaturform. Denn Colson Whitehead sprengt die Form – lässt seine Detektivin, Lila Mae, am Ende keinen Kriminalfall lösen – eigentlich gibt es da nämlich keinen Fall –, sondern wenn schon, dann den Fall Lila Mae aufklären: Lässt sie ihre eigene Identität neu anschauen, lässt sie Fragen nach race, nach Orientierung, nach Aufstieg und Solidarität, neu bewerten. Ein Bildungsroman also vielleicht, oder ein Künstlerroman, eine Emanzipationsgeschichte, getarnt als neue Variante der Watson-detective-story. In jedem Fall: ein großes Debüt!