"Die Welt zwischen den Nachrichten" von Judith Kuckart
Stand: 09.08.2024, 09:46 Uhr
Rückblicke auf das eigene Leben, auf eine Vergangenheit, wie neu erschaffen durch die Erinnerungen. Denn was ist wirklich, was durch Wiederentdecken und Vergessen erfunden und verformt? Judith Kuckart widmet sich diesen Fragen in ihrem neuen Roman.
Judith Kuckart: Die Welt zwischen den Nachrichten
DuMont Verlag, 192 Seiten, 24 Euro.
Eine der wichtigsten Fragen im ganzen Roman:
"Ist das geklaut, erfunden, geträumt oder einmal erzählt worden?"
Es könnte auch heißen: "schon einmal erzählt worden" - und zwar von der Autorin selbst. Denn wieder öffnet sich der vertraute Kosmos, die Welt, die Judith Kuckart schon in anderen Büchern belebt hat: ihre eigene Biographie. Die Erfahrungen eines Lebens, das zufällig das ihre ist. Angedockt an die Zeit, in der es sich entfaltete oder immer noch entfaltet, das wirre Bündel aus Zufällen und Beziehungen, die so unausweichlich wirken, als seien sie geplant. Nur das Schreiben, das Buch selbst, zwingt alles in eine Ordnung:
"Und was schreibst du? /Ich zeige auf sie, fahre mit dem Finger die Kontur ihres Gesichts ab, ohne es zu berühren./ Mich schreibst du, fragt sie. / Ja, dich. / Da übernimm dich aber mal nicht, sagt sie."
Zurück zu den Anfängen, in einer kleinen Stadt am Rande des Ruhrgebiets. Im wahren Leben der Judith Kuckart heißt sie Schwelm, im Roman einfach nur S., ein Ort, der auch für andere stehen könnte.
"Als ich geboren werde, ist der Juni so heiß, dass die Menschen die Schattenlinien der Häuser nicht verlassen, als sei da, wo Sonne ist, ein Todesstreifen."
Hier leben Personen, die kleine, wenn auch erstaunliche Rollen spielen in der historischen Realität. Wie die anmutige Ellen, die mit ihrem Mann in die USA zieht, eine der Geliebten von John F. Kennedy wird und nach dessen Ermordung das Land verlassen muss – zurück ins heimatliche S. Oder wie Ina, die wilde Tochter des Apothekers, die manchmal als Babysitterin für die kleine Judith einspringt. Später wird sie abtauchen in den terroristischen Untergrund und sich mit anderen RAF Mitgliedern in einem Palästinenserlager ausbilden lassen. Wer war sie – vielleicht? Und wer hätte sie sein können - vielleicht?
"Ob Ina ihre Herkunft als peinlich empfindet und sich deswegen im Untergrund versteckt? (…) Ob sie nicht doch und immer noch lieber Schauspielerin geworden wäre? (..) Ob sie manchmal geweint hat? Aus Trauer? Aus Angst?"
Rückblicke auch auf die eigene Familie, auf Mutter und Großmutter, die für die Alteingesessenen so ungewohnt fremd aussehen, und auf den charmant betrügerischen Vater. Auf kluge Frauen wie die Lehrerin, die den Anstoß gibt für eine ungewöhnliche Zukunft: sie schickt Judith zum Ballettunterricht. Später wird diese als junge Frau unter anderem bei der großen Choreographin Pina Bausch in Wuppertal lernen, fast nebenan also, eine der vielen Künstler und Künstlerinnen aus aller Welt, denen sie im Tanz begegnet. Doch nichts davon wird linear erzählt, jeder Blick, jedes Fetzchen Erinnerung ist ein Anstoß, der zu anderen, späteren Erfahrungen in ihrem Leben führt, sie bündelt und zugleich auch bricht.
"Wo sind meine Erinnerungen, wenn ich sie nicht habe?"
Wo also wäre sie womöglich gelandet, die Ich-Erzählerin, wenn es nicht die Zufälle gegeben hätte, die unerwarteten Begegnungen mit Liebhabern, Dichtern und Menschen der Zeitgeschichte, die ihr Leben ausmachen? Eben in jener "Welt zwischen den Nachrichten", die so geheimnisvoll wie faktenbesetzt ihren eigenen Gesetzen folgt.
"Körper wissen/ es gibt eine physische Form für seelische Aktivität und/ eine Technik jenseits aller Technik/um jenen Abgrund zu beherrschen/ der der Mensch ist."
Der Roman mitsamt seinen autobiographischen Anteilen setzt sich aus den Puzzlestücken eines Lebens zusammen, alles wirklich und irreal zugleich, ein Flug in eine Vergangenheit, die von der Erinnerung neu geschaffen wird und doch die Gegenwart mit einbezieht. Ein phantastisches, ungewöhnliches Buch, gesättigt von Poesie und Traum, schwebend und doch animierend. Denn: wie sieht es eigentlich mit der eigenen Vergangenheit aus und mit den eigenen Erinnerungen?
"Also ich geh dann mal, sagt Eva K., wie von dir gewünscht oder geschrieben, egal, ich geh dann mal verschwinden. /Schon traurig, sage ich./ Tröste dich, sagt sie, nichts geht wirklich verloren. Alles wird für immer gewesen sein."