"Tage mit Milena" von Katrin Burseg
Stand: 27.09.2024, 07:00 Uhr
Die Begegnung mit einer jungen Klimaaktivistin rührt an das Trauma einer verheirateten Frau. Katrin Burseg erzählt in „Tage mit Milena“ eine turbulente Geschichte über Klimabewegte und ehemalige Hausbesetzerinnen. Eine Rezension von Dorothea Breit.
Katrin Burseg: Tage mit Milena
Heyne, 2024.
352 Seiten, 22 Euro.
Annika und Hendrik leben in einem Treppengiebelhaus in der Lübecker Altstadt. Sie führt den Schreibwarenladen im Erdgeschoß, er baut nachhaltige Schnittblumen am Stadtrand an. Eines Vormittags kommt die 17-jährige Luzie im Kapuzenpullover in den Laden, schweift umher und steckt eine Postkarte ein, ehe sie Sekundenkleber kauft.
"Ein Schauer fährt Annika über den Rücken, nicht unangenehm, eher eine Art Steigerung der Spannung, die sie schon die ganze Zeit verspürt. Alles prickelt. Noch immer fühlt es sich so an, als beobachte sie ein scheues Tier. Sie wagt nicht, sich zu rühren, damit es keine Witterung aufnimmt, davonspringt."
Annika denkt an den Schwiegervater, der auch nicht vorschnell urteilte, als sie vor über 30 Jahren aus dem Jugendarrest hierherkam, sondern ihr einen Arbeits- und Schlafplatz anbot, und lässt sie gehen. Kurz darauf dröhnt lautes Hupen. Annika rennt hinaus in den Verkehrsstau: da klebt das Mädchen mit einer Hand am Asphalt fest, in der anderen hält es ein Klimaschild hoch.
"Ein paar Autofahrer schreien etwas aus den geöffneten Wagenfenstern. »Verpiss dich!« ist noch eine der freundlicheren Äußerungen, die wie Steine auf das Mädchen einprasseln. »Der sollte man die Hand abhacken«, hört Annika auch. Ganz vorne brüllt einer: »Einfach überfahren, die Schlampe!«"
Es geht alles rasend schnell in Katrin Bursegs Roman „Tage mit Milena“, in dem zwei Generationen zivilen Ungehorsams aufeinanderprallen. Wie ein Tsunami reißt das Trauma der Hamburger Hafenstraße die Protagonistin Annika in einen Gewaltakt hinein.
Hendrik holt sie und Luzie von der Polizeiwache nach Hause. Zwischen ihm, er ist Mitglied der Sunflower-Bewegung, und Luzie, Letzte Generation, entflammt eine leidenschaftliche Diskussion Für und Wider die Klima-Aktionen, die Katrin Burseg mit erhellenden Argumenten aus sozialen Netzwerken und Hashtags anfüllt. Am nächsten Morgen ist Luzie weg. Kurzentschlossen folgt Annika ihr zu dem Klimacamp.
"(...) auf einmal kann sie an nichts anderes mehr denken. Die Angst um Luzie füllt sie vollkommen aus, schnürt ihr die Kehle zu. Sie hat schon einmal versagt, damals bei Milena, (...) und sie muss etwas tun, um nicht durchzudrehen!"
Doch Annika erlebt Hamburg als lebensbedrohliche Kampfarena, sie verpatzt Luzie den friedlichen Auftritt bei der Demo, greift erneut einen Polizisten an. Einen Tag und einige irrwitzige Momente und Begegnungen später sitzen Annika und Luzie im ICE Richtung Venedig/Mestre, wo Matteo lebt, der Schlüssel zu Annikas Trauma. Häppchenweise erzählt Annika im Rückblick von ihrem Aufwachsen mit der chaotischen jungen Mutter Mona im Wanderzirkus, dem Wohnen auf einem Stellwerk, und von Matteo, dem Schulverweigerer, in den sie verliebt war, so wie ihre Freundin Milena, die diabeteskranke Tochter von Pastor Wilms, der sich um Annika kümmerte.
"Bis zum Beginn der Sommerferien durfte Annika bei Pastor Wilms bleiben, so hatte er es mit dem Jugendamt abgesprochen, das sich eingeschaltet hatte. Danach würde man weitersehen. Dieses Mal nahm Milena sie freundlich, ja geradezu herzlich auf (...)."
Der vielbefrachtete Name Milena, zumal gleich im Titel des Buchs, klingt leider verdächtig nach literarischer Aufwertung (Frank Kafka und Ingeborg Bachmann). Katrin Bursegs Milena bleibt blasse Nebenfigur, bedeutsam ist nur ihr Tod. Aus Protest gegen die behütende Mutter reißt Milena mit Annika aus, sie treffen Matteo bei den Hamburger Hausbesetzern wieder und bleiben, richten sich mit ihm in der Festung ein.
"»Ich bin nicht verschwunden. Ich bin … verhaftet worden.« »Was?«, fährt Luzie dazwischen. (...) »Im Dezember 1986, nach der großen Hafenstraßen-Demo. Ich bin mit Jugendarrest in Hahnöfersand davongekommen, aber Milena hatte keine Chance.«"
In Mestre angekommen suchen sie verzweifelt nach Matteo, genießen Dolce Vita und venezianische Küche, und finden ihn, als Luzie einen Notarzt braucht. Ehe Annika und Matteo jedoch aussprechen, was wirklich passiert ist damals, zwingt die Autorin sie durch ermüdend lange Schleifen der Erinnerung an die gewaltsame Räumung der Hafenstraße. Indessen Luzie unbeirrbar friedfertig ihr eigenes Ding durchzieht in diesem mitreißenden Melodram über Liebe und Schuldgefühle, Irrtum und Gerechtigkeit.