Buchcover: "Nah bei Dir – Briefe 1978-1996" von Adelheid Duvanel

"Nah bei Dir – Briefe 1978-1996" von Adelheid Duvanel

Stand: 03.01.2025, 07:00 Uhr

Die 1996 früh verstorbene Adelheid Duvanel wird in der Schweiz gerade wiederentdeckt. Wer aber war diese Baseler Erzählerin, die mit Kafka und Robert Walser verglichen wird? Der Briefband "Nah bei Dir" gibt darüber erschütternd Auskunft. Eine Rezension von Gisa Funck.

Adelheid Duvanel: Nah bei Dir – Briefe 1978-1996
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Angelica Baum.
Limmat, 2024.
896 Seiten, 44 Euro.

Im Februar 1993 erlebte die Baseler Schriftstellerin Adelheid Duvanel einen besonders schlimmen Tiefschlag in ihrem Leben voller Tiefschläge. Damals wohnte sie mit ihrer sucht- und aidskranken Tochter zusammen, die ebenfalls "Adelheid" hieß. Acht Jahre lang hatte sich Adelheid Duvanel vorher aufopferungsvoll um ihre fixende Tochter gekümmert. Dann aber kam es in jener Februarnacht 1993 zu einer Gewaltszene, die alle Liebesdienste der Mutter grundsätzlich in Frage stellte. Traurig schrieb Duvanel hinterher an ihre Freundin Maja Beutler:

"Liebe Maja, (…) Vor einer Woche hatten meine Tochter Adelheid und ich den schlimmsten Streit unseres Lebens: Natürlich ging es wieder um Kokain. Ich weigerte mich, ihr hundert Franken zu geben, ich schrie, sie schrie; es war ein Uhr früh, sicher sind alle Leute im Haus erwacht. Zuletzt war sie kreideweiß im Gesicht. (…); sie schrie etwa viermal: 'Wenn du nit my Muetter wärsch, würd‘ ich Di umbringe!'"

Es ist nur eine von vielen verstörenden Stellen im Briefband "Nah bei Dir", die einen erschüttern. Wirkt das darin geschilderte Leben der 1996 frühverstorbenen Adelheid Duvanel doch so abgrundtief verhängnisvoll, dass man oft nicht weiß, ob man weinen oder lachen soll. Wobei der Briefband im Kern eigentlich nur aus zwei Korrespondenzen besteht: Zum einen aus Duvanels Schriftverkehr mit ihrem Lektor Klaus Siblewski. Und zum anderen aus ihren Briefen an Maja Beutler, einer gleichaltrigen Schriftstellerin aus Bern:

"Liebe Maja, (…) ich kann mit niemandem über das reden, was mich bewegt. Niemand versteht mich [wie Du]. Siehst du: Ich habe Vertrauen zu Dir."


...erklärte Duvanel Beutler am 7. Oktober 1982, nachdem sich beide 1981 beim Literaturwettbewerb in Klagenfurt kennengelernt hatten. Die Autorin aus Bern wurde für Duvanel danach schnell zu einer engen Vertrauten. Ja, regelrecht zu ihrer Beichtmutter, der sie fünfzehn Jahre lang brieflich ihr Herz ausschüttete. Was Beutler jedoch bedrängend fand, wie Angelica Baum im Nachwort notiert:

"Sie habe sich im Briefwechsel mit Adelheid Duvanel oft nicht frei gefühlt, gestand mir Maja Beutler im Sommer 2021 am Telefon."

Und in der Tat: Die Diskrepanz aus öffentlichem Literaturerfolg und sozialem Alltagselend wirkt im Fall von Adelheid Duvanel geradezu irrwitzig bizarr. Denn so sehr die Autorin ab 1980 auch von Kritikern als Erzählgenie gefeiert wurde, so unheilvoll war ihr Leben doch schon früh überschattet.

1936 geboren, landete sie wegen einer angeblichen Schizophrenie bereits mit 17 in der Baseler Psychiatrie. Dort traktierte man die junge Frau jahrelang mit Insulin- und Elektroschocks. 1962 heiratete sie dann tragischerweise überstürzt einen toxischen Mann: Nämlich den Maler Joseph Duvanel, kurz "Joe" genannt. Dieser ließ seine Frau nicht nur finanziell und bei der Kinderbetreuung im Stich, sondern betrog sie auch regelmäßig mit Geliebten und zerstörte aus Konkurrenzneid viele Bilder von ihr. Vor allem aber – das erfährt man nun aus einem Brief an Beutler von 1992 – missbrauchte Joe Duvanel offenbar auch seine eigene zwölfjährige Tochter sexuell:

"Es war nur ein einmaliger 'Ausrutscher' von Joe. Er war betrunken. Aber unsere Tochter kam jahrelang nicht darüber hinweg." 

1982 ließ sich Adelheid Duvanel dann zwar vom herrischen Joe scheiden. Ihr Leben aber rauschte danach trotzdem in den Abgrund, weil ihre früh heroin-süchtige Tochter 1985 nicht nur ungeplant ein Kind bekam, sondern auch noch aidskrank wurde. Zur ewigen Geldnot und zum Drogenelend kam nun noch die allgemeine Aids-Hysterie hinzu. Als Mutter einer HIV-positiven Fixerin geriet sie nun völlig ins Abseits und brach, fast komplett alleingelassen mit der Tochterbetreuung, immer wieder psychisch zusammen. So wurde ausgerechnet die Baseler Psychiatrie für Adelheid Duvanel ironischerweise zum rettenden Refugium. Zu ihrem Fluchtort, an dem sie endlich in Ruhe schreiben konnte.