"Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer" von Francesca Maria Benvenuto
Stand: 11.10.2024, 07:00 Uhr
In den Fängen der Camorra – die neapolitanische Anwältin Francesca Maria Benvenuto lässt in ihrem außergewöhnlichen Debütroman "Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer" einen 15-jährigen aus dem Gefängnis erzählen. Eine Rezension von Andrea Gerk.
Francesca Maria Benvenuto: Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer
Aus dem Italienischen übersetzt von Christine Ammann.
Antje Kunstmann Verlag, 2024.
176 Seiten, 22 Euro.
Das Meer, dieser so vielbesungene Sehnsuchtsort, ist für den Ich-Erzähler in Francesca Maria Benvenutos Debütroman kein Symbol von Freiheit und Aufbruch. Vielmehr umschließt es die vor Neapel gelegene Insel Nisida, auf der Zeno im berüchtigten Jugendgefängnis sitzt:
"Ich bin erst fünfzehn und noch zweieinhalb Jahre hier, Tag für Tag, mit den anderen Minderjährigen und dem Meer. Und danach, genauer gesagt am 3. August 1994, steckt ihr mich nach Poggioreale, Direttò, das wisst ihr genauso gut wie ich! So steht’s geschrieben, und was geschrieben steht, ist immer beschissen. Das ist also euer Geschenk, wenn ich volljährig bin. Das Meer in Nisida ist wirklich zu nix zu gebrauchen. (…) Wir dürfen nichmal drin baden, in dem bekackten Meer, weil ihr Angst habt, dass wir abhauen."
Zeno erzählt vom Alltag im Gefängnis, von seinen jungen Mitgefangen, wie dem verwahrlosten Waisenjungen Marietto, der einsitzt, weil er – um nicht zu verhungern – Essen geklaut hat. Oder von dem schönen, schlauen Gaetano, der seine bettelarme Familie finanziert, in dem er die Strafe eines anderen absitzt:
"Der echte Mörder, der Sohn von einem Dreckskerl aus dem Rione Sanità, zahlt Gaetano seiner Familie eine Million Lire für jedes Jahr, das er unschuldig im Gefängnis sitzt. Und die Familie von Gaetano ist noch ärmer wie ich und Mamma zusammen und hat Ja gesagt. Und das scheint mit doch das Normalste von der Welt! Ich hätt genauso Ja gesagt!"
Zeno schreibt für seine Italienisch-Lehrerin – die Professoressa, wie Zeno sie nennt –, denn die Signora hat ihm versprochen, im Gegenzug ein gutes Wort für ihn einzulegen, damit er vielleicht an Weihnachten zwei Tage zu seiner Mama darf. Also erzählt er von seiner Kindheit in Forcella, einer Hochburg der Camorra, von seinen Träumen und Sehnsüchten.
Schon als zwölfjähriger kurvt Zeno mit dem Moped als Drogenkurier durch Neapel. Sein Vater sitzt da schon lange im Gefängnis, die Mutter geht anschaffen und Zeno will etwas dazuverdienen. Aber schnell gerät er zwischen die Fronten des organisierten Verbrechens und verpasst einem Jungen, der ihn töten soll, drei Kugeln. Obwohl er in Notwehr gehandelt hat, landet er im berüchtigten Jugendknast. Hier träumt er von seiner Freundin Natalina und einer Villa mit Balkon, klagt die Ungerechtigkeit der Gesellschaft an und schreibt das alles so auf, wie es ihm gerade durch den Kopf geht:
"Meine Familie hab ich mir nicht ausgesucht, das hier ist ja kein Supermarkt. Man kommt per Zufall auf die Welt, da entscheidet keiner was. Ihr, Professoressa, kommt bestimmt aus einer ehrlichen Familie, die aber keine Milliarden besitzt. Genau wie euer Mann. Und eure Tochter ist euer Kind. Ich aber bin das Kind von einer Hure und meinem Vater. Carmine ist das Kind von Zuhältern. (…) Gennaro ist das Kind von nem Scheißkerl. Marietto gehört zu keinem. Ob wir mal anders sein werden, wenn wir groß und erwachsen sind? Keine Ahnung."
Francesca Maria Benvenuto hat ihrem jungen Erzähler eine so überzeugende Stimme verliehen, dass man beim Lesen immer wieder das Gefühl hat, dem jungen Zeno beim Denken zuzuhören. Ohne in einen anklagenden Ton zu verfallen, ist Zenos fast dokumentarisch wirkender Bericht doch auch ein beeindruckendes Plädoyer gegen das organisierte Verbrechen, gegen Ungerechtigkeit und Gewalt.
"Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer" ist ein packender, rauer und zugleich berührender Monolog aus einer abgeschlossenen Welt, die mit unserer kaum Berührungspunkte hat. Dass ihr die Autorin so erstaunlich nah kommt, ganz ohne in klischeehafte Sozialromantik zu verfallen, zeigt, was für ein außergewöhnliches Debüt ihr gelungen ist.