Buchcover: "Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand" von Marta Barone

"Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand" von Marta Barone

Stand: 14.10.2024, 07:00 Uhr

Marta Barones Debüt "Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand" ist das mitreißende Porträt einer komplizierten Vater-Tochter-Beziehung und umfassendes Zeugnis politischer Zeitgeschichte. Eine Rezension von Michelle Clermont.

Marta Barone: Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand
Übersetzt aus dem Italienischen von Jan Schönherr.
Kiepenheuer & Witsch, 2024.
352 Seiten, 24 Euro.

"Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand" von Marta Barone

Lesestoff – neue Bücher 14.10.2024 05:35 Min. Verfügbar bis 14.10.2025 WDR Online Von Michelle Antonie Clermont


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Von den Gerichtsakten, die ihre Mutter beim Aufräumen findet, will die Ich-Erzählerin von Marta Barones Roman erst einmal nichts wissen. Zu schwierig war das Verhältnis zu ihrem Vater Leonardo Barone, der kürzlich an Krebs gestorben ist. Was die Identität ihres Vaters betrifft, sieht die Tochter ziemlich klar: Für sie ist er „ein Buch mit sieben Siegeln“. Ihn zu „entschlüsseln“, wie sie es nennt, interessiert sie nicht, weil es nichts zu entschlüsseln gäbe. Dann liest sie ihn doch, den Vorwurf, der ihrem Vater Anfang der Achtziger Jahre gemacht wurde: „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“. Recht schnell erfährt die Erzählerin, dass ihr Vater Mitglied bei der kommunistischen Partei „Servire Il Popolo“ war.

Nicht dass ich von dieser Partei viel wusste: Ich hatte nur ab und zu davon gehört, als von einer in ihrem grotesken Dogmatismus fast schon komischen Sekte von Fanatikern. Zum Scherz nannte man sie auch „Servire il pollo“, also „Das Hühnchen servieren“ statt „Dem Volk dienen“. Ich konnte mir nichts denken, das von meinem chaotischen Vater weiter entfernt gewesen wäre.

Ihre Spurensuche beginnt. Die Tochter lässt ihre Erinnerungen aufleben, durchforstet Archive, führt unzählige Gespräche mit Verwandten und Freunden ihres Vaters. Dabei dringt sie immer weiter in dessen politische Vergangenheit und die der linksextremen Szene Italiens vor. Der Roman ist gründlich recherchiert, die Beschreibungen präzise und stimmungsvoll, beinahe episch. Die Leserschaft kann förmlich sehen, wie L.B. – so nennt die Erzählerin ihren Protagonisten – vor den Fabriken Turins, der berüchtigten „Fabricca“ der FIAT-Werke steht, und Flugblätter verteilt. Der gebildete Arzt mit dem starken Gerechtigkeitssinn hat sich die Armut – aus parteiideologischen Gründen – sozusagen selbst ausgesucht. Teil des Panoramabildes, das Marta Barone mit politischem Weitblick erstellt, ist auch die finanzielle Not der italienischen Gesellschaft, gerade in den Arbeitervierteln Turins der Siebziger Jahre.

Die ungeteerten Straßen waren im Herbst und Winter ein einziger Morast, durch den die fünftausend Einwohner – fast alle aus dem Süden – mit Taschenlampen und Galoschen wateten. Aufgrund eines Konstruktionsfehlers waren die Rohrleitungen größtenteils kaputt und lagen offen, sodass die Straße aussah wie frisch bombardiert. Hunderte Kinder aus den meist fünf- bis siebenköpfigen Familien mussten sich kilometerweit durch den Schlamm zur Schule schleppen und später im Dunkeln denselben Hürdenlauf nach Hause antreten. Spielten sie mal Fußball in den Nachbarvierteln, wo die Straßen asphaltiert waren, jagte man sie fort, weil sie ja eine Scheibe zerschießen könnten; ihr einziger Zeitvertreib bestand darin, Zeitungsboote auf den Pfützen schwimmen zu lassen wie in einer erbärmlichen Parodie der Pariser Kinder am Brunnen des Jardin du Luxembourg.

In ihrer detaillierten Darstellung will Marta Barone nichts aus dem Blick verlieren. Engmaschig reihen sich die Schritte ihres Protagonisten L.B. und politische Begebenheiten aneinander, die Erzählerin springt hin und her zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Die Leserschaft verliert dadurch leicht den Überblick; so angereichert ist die Erzählung an Namen, Daten und literarischen Anspielungen. Dass das nicht weiter ins Gewicht fällt, liegt vor allem an Marta Barones mitreißender Erzählweise. Im Laufe der Geschichte tendiert die Erzählerin zwar zur Romantisierung ihres Protagonisten – am Extremismus beschönigt sie nichts. Die zunehmende Radikalisierung der Bewegungen hin zu terroristischen Anschlägen, die das ganze Land in Atem halten, wird von Marta Barone fast wissenschaftlich nachvollzogen. Für die Gewalt, als Produkt von politischem Fanatismus, findet die Autorin aber dann, ausgerechnet in sprachgewaltigen Metaphern, sehr deutliche Worte.

Die Chimäre stank nach Metall, Benzin und Blut, nach Pubertät und Verwesung, und nach scharfem, kriegerischem Adrenalin. Sie schüttelte den Kopf, und unablässig stiegen ihr die Tränen in die Augen: Sie war ergriffen von sich selbst, berauscht von ihrem eigenen Gestank.

Marta Barones Debüt ist eine posthume Versöhnung mit dem Vater – und die Rekonstruktion der eigenen Identität. Das Buch ist nicht nur fesselnd und leidenschaftlich erzählt. Gerade was die politischen Dimensionen der Erzählung betrifft, ist der Roman erschreckend aktuell. Dass seine Erzählkraft auch in der deutschen Sprache bewahrt wird, ist Jan Schönherrs beeindruckender Übersetzung zu verdanken.