Elif (l.) und Gamze Kubasik, Mutter (l.) und Tochter von Mehmet Kubaşık, beim NSU-Opfertreffen am 30.11.2015 in Dortmund

Kubaşık-Angehörige vor NSU-Ausschuss

Stand: 13.01.2016, 06:00 Uhr

Von Dominik Reinle

Am 4. April 2006 beginnt in der Dortmunder Nordstadt ein Albtraum. Zunächst ist alles wie immer. Um 6.00 Uhr schließt Elif Kubaşık in der Mallinckrodtstraße den Kiosk ihres Ehemannes Mehmet auf. Wie üblich löst er sie später ab. Gamze Kubaşık, die älteste Tochter der beiden, bringt an diesem Tag ihren jüngsten Bruder zum Kindergarten. Danach geht sie zur Berufsschule. Als sie kurz nach 13 Uhr wieder in die Mallinckrodtstraße einbiegt, sieht sie von weitem eine Menschenmenge, Absperrungen und Polizeiautos.

Zuerst sagen die Beamten, ihr Vater sei bei einer Schießerei verletzt worden. Dann erfährt sie, dass er tot ist. "Von da an fühlte ich mich wie im Film", erinnert Gamze Kubaşık sich. Sie und ihre Mutter werden am nächsten Tag von der Polizei abgeholt und getrennt befragt. "Man wollte von uns hören, dass mein Vater mit Drogen gehandelt oder irgendetwas mit der Mafia zu tun hatte. Man hat ihm auch unterstellt, er hätte irgendetwas mit anderen Frauen gehabt", schreibt Gamze Kubaşık im 2014 erschienen Buch "Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen", in dem NSU-Opfer und Angehörige ihre Erfahrungen schildern. Die Beamten hätten behauptet, Beweise zu haben. "Heute weiß ich: Das war einfach gelogen. Man wollte mit den falschen Unterstellungen nur etwas aus uns herauskriegen."

Rechtsradikale als Täter ausgeschlossen

Aus den Unterstellungen der Polizei werden Gerüchte. "Nach einigen Wochen fing es an", so Gamze Kubaşık. Es sei getuschelt worden, ihr Vater habe Drogen an Jugendliche und Kinder verkauft. Ihr jüngerer Bruder wird von anderen Kindern beschimpft. Doch zu diesem Zeitpunkt gibt es für die Familie Kubaşık keine Möglichkeit, die falschen Anschuldigungen zu entkräften. Die Ermittler wissen nur: Mehmet Kubaşık ist das achte Opfer einer Mordserie, bei der Männer mit ausländischen Wurzeln mit derselben Waffe erschossen wurden.

Hinweise der Familie, Neonazis könnten hinter den Morden stecken, werden von der Polizei abgetan. "Wir hatten ziemlich bald den Verdacht, dass es nur Rechtsradikale gewesen sein könnten, die hinter der Mordserie steckten", so Gamze Kubaşık. "Aber die Polizei hat uns immer wieder geantwortet: 'Ausgeschlossen. Dafür gibt es keine Beweise.'"

Fragwürdige Polizeimethoden

Der Umgang der Behörden mit Familie Kubaşık ist kein Einzelfall. Bei den mutmaßlichen NSU-Taten haben die Ermittler die Opfer und ihre Angehörigen bundesweit immer wieder als Beschuldigte behandelt. Bereits nach dem ersten mutmaßlichen NSU-Mord an Enver Şimşek in Nürnberg im September 2000 setzt die Polizei fragwürdige Methoden ein: "Man hat meiner Mutter ein Foto von einer blonden Frau gezeigt, sie wäre angeblich die Geliebte von meinem Vater und sie hätten gemeinsam zwei Kinder", sagt Semiya Şimşek. In diesem Fall geht die Polizei ebenfalls lange von angeblichen Mafiaverbindungen und Drogengeschäften aus.

Auch nach dem Kölner Nagelbomben-Anschlag im Juni 2004 machen die Betroffenen schlechte Erfahrungen mit den Ermittlern. Sie seien trotz ihrer teils schweren Verletzungen wie Tatverdächtige behandelt worden, sagen mehrere Zeugen später im Münchner NSU-Prozess aus.

Schweigemarsch in Dortmund

Elif und Gamze Kubaşık geben trotz der falschen Verdächtigungen nicht auf. Als zwei Tage nach dem Mord an Mehmet Kubaşık in Kassel auch der Internet-Café-Betreiber Halit Yozgat mit derselben Waffe erschossen wird, nehmen sie Kontakt zu dessen Familie auf. Sie beteiligen sich an einem Schweigermarsch der Angehörigen in Kassel. "So haben wir dann auch die Şimşeks aus Nürnberg und andere betroffene Familien kennengelernt." Danach organisieren die Kubaşıks auch in Dortmund einen Schweigemarsch. "Wir wollten als Familie zeigen: Wir sind nicht diejenigen, für die ihr uns haltet. Wir sind unschuldig." Erst im November 2011, als der NSU auffliegt, glauben ihnen auch die Ermittler.

Gamze Kubasik (l.) und Semiya Simsek sprechen am 23.02.2012 bei der Gedenkveranstaltung für die NSU-Opfer in Berlin

2012 werden Gamze Kubaşık und Semiya Şimşek so etwas wie Gesicht und Stimme der Angehörigen des NSU-Terrors. Stellvertretend erinnern die beiden bei der staatlichen Gedenkveranstaltung für die Mordopfer der "Zwickauer Zelle" an ihre Väter - und an die Behandlung durch die Behörden. Damals bittet Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in ihrer Rede die Familien der Ermordeten um Verzeihung für die falschen Verdächtigungen der Ermittler.

Nachdem Elif und Gamze Kubaşık im November 2013 im Münchner NSU-Prozess ausgesagt haben, beantworten sie nun am Mittwoch die Fragen der Abgeordneten im NSU-Untersuchungsausschuss des NRW-Landtags.