Anhörige von mutmaßlichen NSU-Opfern legen am Gedenkstein für Mehmet Kubaşık Rosen nieder

Todesopfer rechter Gewalt: "Fälle in NRW überprüfen" (Teil 2)

Stand: 11.03.2019, 06:00 Uhr

  • Zahl der Todesopfer rechter Gewalt in NRW ist umstritten
  • Polizei zählt anders als nicht-staatliche Stellen
  • Kriminologe Singelnstein fordert eine Neubewertung

WDR: Warum werden mutmaßlich rechte Taten unterschiedlich eingeschätzt?

Singelnstein: Verschiedene Aspekte spielen eine Rolle. Die Frage, ob eine Tat politisch motiviert ist, wird zunächst von der Polizei bei der Aufnahme des Sachverhaltes beantwortet. Da kommt es auf die nötige Sorgfalt der Beamten an.

Bis Ende der 1990er Jahre gab es zudem nur eine enge Definition der Kategorie politische Motivation von Straftaten. Diese mussten sich in der Regel gegen den Staat richten. Rassistische Motive zum Beispiel wurden daher oft nicht erfasst.

Die Definition wurde 2001 geändert. Das neue polizeiliche Definitionssystem berücksichtigt auch Hasskriminalität. In der Praxis setzt sich das neue Verständnis von "politisch motiviert" aber erst langsam durch.

Tobias Singelnstein

Tobias Singelnstein, Professor am Lehrstuhl für Kriminologie an der Ruhr-Universität Bochum

Professor Tobias Singelnstein ist Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie an der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum.

WDR: Trotz der Neu-Definition kommt das NRW-Innenministerium in keinem der Fälle zu einer anderen Bewertung. Fehlt es am Willen der Behörden?

Singelnstein: Es gibt strukturelle Defizite bei der behördlichen Einstufung solcher Fälle. Die Gründe dafür können vielfältig sein. Eine rechte politische Motivation wird zu häufig nicht ausreichend ermittelt, mitunter aber sogar ausgeblendet.

Bei den Ermittlungen zu den NSU-Taten hat dies beispielsweise dazu geführt, dass oft die Angehörigen der Opfer als mögliche Tatverdächtige wahrgenommen wurden.

WDR: Wie können die Taten in NRW sachgerecht eingestuft werden?

Singelnstein: Wünschenswert wäre eine eingehende unabhängige Untersuchung. Das ist in Brandenburg und Berlin gemacht worden. Diese beiden Bundesländer haben Wissenschaftler beauftragt, alle sogenannten Altfälle noch einmal neu zu bewerten. Mehrere Fälle sind daraufhin von den Behörden anders eingestuft worden.

Ein solches Vorgehen würde sich auch für NRW anbieten: Es ist das Bundesland mit den meisten Verdachtsfällen.

Das Interview führte Dominik Reinle.