Lesefrüchte
"Künstliche Beziehungen" von Nathan Devers
Stand: 09.08.2024, 08:54 Uhr
Sicher, es gibt ein Leben außerhalb des Computers. Aber es ist ein Elend. Jedenfalls für Julien Libérat. Libérat ist 28 und spielt sehr gut Klavier. Aber nicht gut genug, um die Pariser Plattenbosse hinterm Ofen hervorzulocken. Der neue Roman des Franzosen Nathan Devers entführt in virtuelle Welten.
Seine Freundin May hat ihn verlassen, die Mieten im Zentrum sind unerschwinglich und für Touristen Lieder aus Woody-Allen-Filmen zu klimpern, ist eine Erniedrigung. Julien Libérat ist bereit, sich auszuloggen aus der Realität. Und das macht ihn zum idealen Kunden - oder Opfer - für Adrien Sterner.
Wie die amerikanischen Tech-Götter Mark Zuckerberg oder Steve Jobs ist auch Adrien Sterner Milliardär, Visionär und Hassobjekt. Allerdings ist ihm etwas gelungen, wovon die Amerikaner noch träumen. Sterner ist der Schöpfer des ersten komplett lebensechten Metaversums.
Über Jahre haben Tausende Programmierer und Designer eine virtuelle Simulation der gesamten Welt geschaffen. Lieben und morden, reisen und arbeiten, kämpfen und träumen, Geld verdienen und Sport treiben: alles ist möglich. Es gibt nur eine Bedingung: absolute Anonymität. Julien Libérat meldet sich an, zunächst ohne besondere Hoffnungen. Aber schon bald zeigt sich, dass Adrien Sterner nicht zu viel versprochen hat. Libérats Avatar Vangel kommt schnell zu Geld und Ruhm, ihm gelingt in der Antiwelt all das spielerisch, woran Libérat in der Realität scheitert.
Und dann beginnen die Welten sich zu vermischen. Denn die Gedichte, mit denen Vangel in der Antiwelt zum Superstar wird, die schreibt Julien Libérat. Das Cleargold-Geld, das Vangel in der Antiwelt verdient, kann Libérat in Euro umtauschen. Und als die Nutzerzahl der Antiwelt eine Milliarde erreicht, beginnen die realen Medien über virtuelle Ereignisse zu berichten. Und damit wird Julian Libérat zur Gefahr für Adrien Sterner. Es mag am Kokain liegen oder an seinen Religionsstudien, aber Adrien Sterner betrachtet sich als gottgleichen Welten-Schöpfer. Und genau wie sein Vorbild will Sterner jetzt handeln.
Nathan Devers, der mal Rabbiner werden wollte und dann doch Philosophie studierte, ist mit "Künstliche Beziehungen" ein seltenes Kunststück gelungen: Ein kluges Buch über Dinge, die uns auf den Nägeln brennen. Aber auch ein Buch voller clever getimter Action, das sich an eine uralte Hollywoodregel hält: Mit einem Erdbeben beginnen und dann langsam steigern. Und sogar der große Serge Gainsbourg hat einen Auftritt. Die Realität, in der die französische Literatur entsteht, ist definitiv nicht am Ende!
Eine Rezension von Uli Hufen
Literaturangaben:
Nathan Devers: Künstliche Beziehungen
Aus dem Französischen von André Hansen
S. Fischer, 336 Seiten, 26 Euro