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Buchcover: "Lyrikpreis München 2024 - Anthologie"

Aktuelle Lyrik

"Lyrikpreis München 2024 - Anthologie" hrsg. von Elke und Harald Albrecht el al.

Stand: 17.01.2025, 13:25 Uhr

"Die eine rettet die Welt, die andere bewegt sie – was haben Poesie und Technik sich heute zu sagen?" lautete im letzten Jahr das Motto der Ausschreibung für den Lyrikpreis München. Das Thema traf einen Nerv. Robert Levin liest "Verdichtete Welt" von Laszlo Borries.

Mit 810 Einsendungen beteiligten sich mehr Autorinnen und Autoren als jemals zuvor. Die Shortlist und die Texte der Preisträger finden sich nun in dieser Anthologie. Keine Frage, technologischer Fortschritt und zuletzt die Digitalisierung haben unsere Welt tiefgreifend verändert. Der Kühlschrank spricht, Algorithmen machen Meinung und ChatGPT produziert den "Content". Beschleunigung und Verdichtung bestimmt unser Leben.

Welche Rolle aber kommt der Poesie zu, wenn Sprache suchmaschinenkonform sein muss oder zunehmend von einer künstlichen Intelligenz geprägt wird? Die Autorinnen und Autoren haben überraschende und vielfältige Formen gefunden, sich dem Thema zu widmen. Annette Hagemann bricht schwierige Themenfelder wie Anthropozän und postkoloniale Restitution in wirkungsvoll einfache Feststellungen und Sentenzen hinunter. Etwa, wenn sie aufzeigt, wie lange der Mensch qua Wissenschaft gebraucht hat, das Prinzip der Gegenseitigkeit und der Wechselwirkung in der Natur zu verstehen ("Humboldts Spuren"). Allerdings nur wenig Zeit, um auf ewig Verschmutzung und irreversible Schäden zu hinterlassen.

"Es ist ein Fehler aufgetreten" lautet die erste Zeile in Clemens Schittkos "Der endgültige Siegeszug der digitalen Poesie". Ein Titel, der ironisch gemeint sein muss. Denn diese Auflistung möglicher Computer-Fehlermeldungen macht eindrücklich bewusst, wie begrenzt und repetitiv die IT-Sprache, mit der man täglich in Berührung kommt, daherkommt.

Amüsant wird es, wenn KI ins Spiel kommt. In Armin Steigenbergers Dialog mit ChatGPT versucht, ein zum "User" degradierter Dichter, der Maschine beizubringen, formal innovative Gedichte zu schreiben. Ein entlarvender Dialog. "Neuroenhancement", "genentische Modifkation" oder "Interface": Der technologische Wortschritt spült auch spannende neue Begriffe in das Weltarchiv der Wörter, aus dem sich die Autorinnen und Autoren bedienen können. Ein reicher Schatz, um den Wahnsinn der Welt dichterisch abzubilden.

Wie untrennbar die natürliche Welt mit der Tech-Welt im Fühlen und Denken, im Sein verknüpft ist, exploriert das Werk des Hauptpreisträgers Steffen Popp "Sieben Stufen Nacht". Die Laudatio zeigt auf, welchen dichterischen Traditionen sich Popp in Kombination mit sprachtechnischen Innovationen bedient und welche Mehrdeutigkeiten entstehen.

Und sind die Maschinen nun eine Konkurrenz? Das ist selbstverständlich eine rhetorische Frage. Die originär menschlichen Sprach-, Bilder-, und Lautkombinationen der Dichtung, die freien Assoziationsketten, Gattungen und Experimente setzen den glatten Sprachoberflächen tatsächliche Schöpfungskraft entgegen.

Poesie kann die krisenhafte Realität jenseits bekannter Beschreibungen erfassen und erweitert unser Wahrnehmungsspektrum: Laszlo von Borries, einer der Preisträger für Junge Lyrik bringt es in "Verdichtete Welt" auf den Punkt: "Hungrig schwimme ich im Datenstrom, / ein Arm drückt Wasser hinter mich, mit dem anderen kescher ich umher. / Noch habe ich mich der Wortwaffe nicht entledigt." Geradezu renitent stellen sich Dichterinnen und Dichter der Verflachung der Welt entgegen. Was für eine Erleichterung. Sehr lesenswert.

Eine Rezension von Mareike Ilsemann

Literaturangaben:
Lyrikpreis München 2024 - Anthologie
Die eine rettet die Welt, die andere bewegt sie – was haben Poesie und Technik sich heute zu sagen?
Herausgegeben von Elke und Harald Albrecht et al.
Aphaia Verlag, 2024
228 Seiten, 20 Euro