Wenn Lucía Lijtmaers namenlose Ich-Erzählerin nicht an das Ende der Welt denkt, denkt sie an ihr eigenes. Denn seit ihrer letzten Trennung sind Suizidgedanken ihr stetiger Begleiter. Jetzt reflektiert sie die gescheiterte Beziehung und richtet sich dabei direkt an ihren Ex-Partner. Sie erzählt von ihrem Kennenlernen, dem ersten Funken zwischen ihnen und den aufregenden Anfängen des Verliebt-Seins. Aber vor allem davon, wie die Beziehung mitsamt der Ich-Erzählerin langsam zerfällt.
Die Streitereien der beiden häufen sich. Und immer ist sie es, die die Verantwortung übernehmen und sich entschuldigen muss. In ihrem eigenen Zuhause läuft sie nur noch auf Eierschalen, denn der nächste Streit ist nur einen kleinen Fehltritt entfernt.
Während sich ihr Partner nach und nach zum Jungpolitiker hocharbeitet, leidet ihr eigener Job. Genauso wie ihre Freundschaften, von denen nach der Beziehung keine mehr übrig ist. Alles, was nach der Trennung bleibt, sind eine schwere Depression und Essstörung sowie die Gewohnheit zu Beruhigungsmitteln und Alkohol zu greifen. Ihr Ausweg: die Flucht nach Madrid und ein Racheplan.
Knapp vierhundert Jahre früher flieht Deborah Moody vor den Schulden und den Gläubigern ihres verstorbeben Mannes. Sie sieht sich gezwungen ihre Heimat England zu verlassen und in den nordamerikanischen Kolonien ein besseres Leben zu suchen.
In Salem scheint Deborah zunächst zu finden, was sie gesucht hat. Als Witwe baut sie sich ein eigenständiges Leben auf und scharrt schnell einen Kreis von Frauen um sich. Allen voran die Hebamme und Heilerin Anne Hutchinson. Gemeinsam verbreiten die beiden ihre Auslegung von Gottes Wort unter den Frauen. Bis die männlichen Prediger auf sie aufmerksam werden.
Vier Jahrhunderte trennen die beiden Frauen, die uns ihre Geschichten in abwechselnden Kapiteln erzählen. Auf den ersten Blick scheint sie nicht viel zu verbinden, aber nach und nach offenbaren sich die Gemeinsamkeiten – bis sich ihre Geschichten schließlich kreuzen.
Mit bissigem Witz erzählt Lucía Lijtmaer vom Frau-Sein in einer patriarchalen Gesellschaft. Von den Erwartungen, die eine solche Gesellschaft an Frauen stellt und von dem Druck diesen gerecht zu werden. Aber sie erzählt auch von dem Potential, das freigesetzt werden kann, wenn gesellschaftliche Erwartungen bewusst zurückgelassen und überschritten werden und weibliche Selbstermächtigung an ihre Stelle tritt.
Lucía Lijtmaer erweist sich als kluge und geschickte Erzählerin. Äußerst scharfsinnig fängt sie die Schicksale ihrer Protagonistinnen ein und schafft es dabei, selbst die subtilsten Formen von patriarchaler Macht und Unterdrückung freizulegen. Voller Spannung verfolgen wir bis zur letzten Seite, ob und wie es den beiden Frauen gelingen wird, sich von den bleischwer auf ihnen lastenden Geschlechterrollen zu befreien. Sich von ihnen zu häuten.
Eine Rezension von Amanda Andreas
Literaturangaben:
Lucía Lijtmaer: Die Häutungen
Aus dem Spanischen von Kirsten Brandt
Suhrkamp, 219 Seiten, 25 Euro