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Buchcover: "Der Seher von Étampes" von Abel Quentin

Buch der Woche

"Der Seher von Étampes" von Abel Quentin

Stand: 19.04.2024, 13:56 Uhr

Der Franzose Abel Quentin ist im Hauptberuf Strafverteidiger, seit einiger Zeit schreibt er auch viel beachtete Romane. Sein Debüt "Sœur" wurde nicht ins Deutsche übersetzt, war in Frankreich aber für den renommierten Prix Goncourt nominiert.

Sein zweiter Roman liegt nun, von Laura Strack aus dem Französischen übersetzt, auf Deutsch vor: "Der Seher von Étampes". Das Buch wurde mit dem Prix Maison rouge und dem Prix de Flore ausgezeichnet. Der Ich-Erzähler ist der pensionierte Historiker Jean Roscoff.

Er ist bei seinen Arbeiten über den US-amerikanischen Kommunismus immer wieder auf Robert Willow gestoßen, einen Schwarzen Jazz-Trompeter und Lyriker, der ins Visier der US-Behörden geriet, Anfang der 1950er-Jahre nach Paris auswanderte, mit den Existenzialisten um Jean-Paul Sartre verkehrte, sich mit ihnen verkrachte und aufs Land zurückzog. Dort schrieb er kaum beachtete Liebesgedichte, die Jean Roscoff faszinieren.

Er schreibt einen Essay über Willow, mit dem er sich auch wissenschaftlich wieder ins Gespräch bringen will. Doch kaum ist sein Buch über Robert Willow erschienen, bricht ein Shitstorm über Roscoff herein, der sich zu einer Kampagne gegen seine Familie ausweitet. Denn Roscoff hat in seinem Buch nur am Rande erwähnt, dass Willow Schwarz war. Die woke Community wirft ihm deshalb Rassismus und kulturelle Aneignung vor.

Abel Quentin spießt mit "Der Seher von Étampes" die kulturellen Diskurse unserer Tage auf, schnell überhitzen und keine Nuancen mehr kennen. Er ergreift weder Partei für den alten weißen Mann Jean Roscoff, der die aktuellen Identitätsdiskurse einfach verschlafen hat. Noch stellt sich Quentin auf die Seite der woken Community, die Roscoffs Essay überwiegend gar nicht gelesen haben, ihn aber schnell an den medialen Pranger stellen.

"Der Seher von Étampes" ist ein kluges, differenziertes Plädoyer für die Nuance, für die Grautöne, um die sich die meisten Debatten ja eigentlich drehen. Drehen sollten.

Eine Rezension von Dina Netz

Literaturangaben:
Abel Quentin: Der Seher von Étampes
Aus dem Französischen von Laura Strack
Verlag Matthes & Seitz Berlin, 2024
350 Seiten, 25 Euro