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Buchcover: "Ich bin der Bruder von XX" von Fleur Jaeggy

Buch der Woche

"Ich bin der Bruder von XX" von Fleur Jaeggy

Stand: 21.06.2024, 14:04 Uhr

In den Erzählungen der mittlerweile 85jährigen Fleur Jaeggy geht es zu, man kommt aus dem Staunen nicht heraus. Und wenn man mit dem Staunen kaum fertig ist, ergreift einen nicht selten das, was Fleur Jaeggy selbst den "dunklen Rausch des Horrors" nennt.

Leicht benommen begreift man erst viel später, was passiert ist. Wie verführerisch und lustvoll Kälte, Einsamkeit, Empathielosigkeit und die absolute Leere sein können, wenn sie von einer unsentimentalen, kompromisslosen Meisterin beschworen werden. Wie in der Erzählung "Die Erbin", einer von 20 in dem Band "Ich bin der Bruder von XX".

"Die Erbin" ist eine Miniatur von gerade einmal viereinhalb Seiten und erzählt von dem alleinstehenden, freundlichen alten Fräulein von Oelix, das ein zehnjähriges, obdachloses Waisenkind namens Hannelore von der Straße aufgenommen hat. Hannelore kauft ein, erledigt den Haushalt, lässt auch bereitwillig Liebkosungen über sich ergehen. Das alte Fräulein liebt das Kind, sie will es zur Erbin einsetzen.

Aber dann bricht ein Feuer aus und Hannelore tut nicht, was sie tun müsste. Sie ruft nicht die Feuerwehr. Hannelore will zerstören. Warum? Einfach so. Es braucht kein warum, es braucht keine Motivation für das Tun und Wollen der Menschen, schreibt Jaeggy, jeder Vorwand ist gut genug. Mit triumphierendem und bösem Blick schaut das Kind zu, wie seine Wohltäterin verbrennt. Und singt das Stabat Mater, das diese sie gelehrt hat. Fleur Jaeggy nennt das zehnjährige Mädchen eine "bezaubernde kleine Kriegerin".

Kalte, böse Kinder und Jugendliche spielen eine große Rolle im Werk von Fleur Jaeggy. Allerdings kommen sie anders als in "Die Erbin" meist aus einem ganz anderen Milieu. Einem Milieu, das Fleur Jaeggy nur zu gut kennt: Großbürgerliche Familien aus der Schweiz, Villen am See, Hunde, Dienstboten. Familien, die ihre Kinder mit acht oder neun Jahren auf brutale Internate in die Berge schicken. Kinder, die also enttäuscht wurden von Menschen, von denen sie Liebe hätten erwarten dürfen: Eltern, Großeltern, Geschwister.

Aber Fleur Jaeggy ist nicht gelegen an Sozialkritik, Pädagogik oder Psychologie. Sie beschreibt was ist: Junge Menschen mit einem geradezu unheimlichen Talent zu Distanz und Kälte. Fünfjährige, die ihre Eltern bitten, sich ihr Leben nicht zu Herzen zu nehmen. Mütter, die nach dem Selbstmord ihres Kindes bemerken, dass der Schmerz nicht so groß ist, wie erwartet. Und Söhne, deren ganzes Sein sich bei dem Gedanken empört, auf die Beerdigung der Mutter zu gehen. Menschen, die nur mit Schlafmitteln schlafen und vom Tod besessen sind. Menschen, die in ihrer Verlassenheit häufig auch Erfahrungen machen, die ans Mystische grenzen.

So wie die heilige Angela von Foligno aus dem 12.Jahrhundert, der es ein Trost war, als Mann und Kinder starben, weil sie sich jetzt die Kleider vom Leib reißen und dem Gekreuzigten Enthaltsamkeit geloben konnte. Auch ihr widmet Fleur Jaeggy eine Erzählung, genau wie ihren vor Jahrzehnten verstorbenen Dichter-Freunden Joseph Brodsky und Ingeborg Bachmann.

Vor 25 Jahren hatte der Berlin Verlag schon einmal versucht, die in Italien bereits seit langem mit Preisen überhäufte Fleur Jaeggy dem deutschen Publikum näher zu bringen. Ohne Erfolg. Wenn der Suhrkamp Verlag jetzt einen neuerlichen Versuch wagt und direkt vier Bücher von Fleur Jaeggy veröffentlicht, so liegt das wohl auch an der großen Jaeggy-Begeisterung in den USA und Großbritannien. Für die deutschen Leserinnen und Leser ist es in jedem Fall ein großes Glück, dass diese schmalen, kristallharten Bücher wieder auf Deutsch vorliegen. Eine unvergleichliche Autorin.

Eine Rezension von Uli Hufen

Literaturangaben:
Fleur Jaeggy: Ich bin der Bruder von XX. Erzählungen
Aus dem Italienischen von Barbara Schaden
Suhrkamp, 2024
114 Seiten, 22 Euro