Buch der Woche
"ruh" von Şehnaz Dost
Stand: 01.03.2024, 14:19 Uhr
Cemal ist als Achtjähriger nach Deutschland gekommen, wo sich seine türkische Familie in einem kleinen Ort bei Freiburg ein neues Leben aufgebaut hat. Doch die Erinnerungsfetzen an die alte Heimat quälen Cemal so sehr, dass er über seine Vergangenheit kein Wort mehr verlieren will.
In ihrem Debütroman "ruh" taucht Şehnaz Dost in vielerlei Hinsichten in tiefe Gewässer ein – Gewässer, die Cemal fürchtet. Das äußerste der Gefühle ist ein Aufenthalt in der Badewanne, in der er nicht ertrinken kann. Cemal ist in der Türkei bei seiner Mutter, mit einer seiner beiden Schwestern und der Großmutter aufgewachsen. Der Vater war schon in Deutschland, um als Gastarbeiter Fuß zu fassen.
Der Ende 30jährige lebt von seiner Frau Gül getrennt, hat eine sechsjährige Tochter und unterrichtet an einer Grundschule in einer deutschen Großstadt, wo er zudem mit Georg angebändelt hat. Genauso wie sein hart arbeitender Vater schweigt Cemal über die wichtigen Dinge im Leben und versteckt seine Gefühle.
Cemal schweigt sich über seine Familiengeschichte aus, in der seine Urgroßmutter Süveyde eine große Rolle spielt. Obwohl Cemal sie nie kennenlernte, hat er jetzt als Erwachsener Kontakt zu ihr. Denn Süveyde erscheint ihm in seinen Träumen, um ihm alles zu erzählen und zu zeigen, wie sie sagt.
So taucht Cemal nachts regelmäßig in seine Vergangenheit ein, erfährt vom schwierigen Leben seiner Urgroßmutter, die unangepasst und hellsichtig war. Sie wusste nicht nur im Voraus, welches Schicksal jedes einzelne Familienmitglied erfahren wird, sondern konnte sich an ihr vorheriges Leben erinnern. Doch darüber musste sie schweigen.
Schweigen ist die höchste Tugend in Cemals Familie und wird von Generation zu Generation als Erbe weiter gegeben. Doch in seinen Träumen verwirft die Urgroßmutter das Erbe und führt Cemal an schmerzvolle Erinnerungen heran. Sie ermuntert ihren Urenkel, in seine Seele – auf Türkisch "ruh" – zu schauen, was ihm sehr schwer fällt.
Paradoxerweise hat Cemal Angst, dass seine Tochter ebenso schweigsam durchs Leben gehen könnte wie er, in emotionale schwarze Löcher fallen, und das tun, was von ihr erwartet wird.
Doch die kleine Ekin neigt nicht zum Schweigen und wehrt sich beispielsweise gegen die Grundschullehrerin, die ihr gegenüber Vorurteile hegt und sie ungerecht behandelt. Gelingt es dem kleinen Mädchen als erster in er Generationenfolge vielleicht, die Tradition des Schweigens und Erduldens aufzubrechen?
Şehnaz Dosts Roman "ruh" ist ein großer Erzählteppich, der unterschiedliche Zeitebenen, Traum und Alltag, Sphärisches und Konkretes miteinander verwebt. Mit viel psychologischem Feingefühl und einer großen Begabung für Sprachrhythmus und szenisches Timing schreibt Şehnaz Dost über das Verlorenheits- und Fremdheitsgefühl, über Trauer und Verdrängung und über die Sehnsucht nach Verbundenheit.
Eine Rezension von Claudia Cosmo
Literaturangaben:
Şehnaz Dost: ruh
ecco Verlag, 2024
272 Seiten, 24 Euro