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Veronika Reichl

Veronika Reichl über "Das Gefühl zu denken - Erzählungen"

Stand: 13.07.2023, 19:19 Uhr

In vierzig brillanten Geschichten erzählt Veronika Reichl von der Lust am Denken. Ausgehend von Gesprächen mit Lesenden über ihre persönlichen Lektüreerfahrungen zeigt sie die enge Verbindung zwischen Theorie und Leben.

Veronika Reichl über "Das Gefühl zu denken - Erzählungen"

WDR 5 Bücher - Autoren im Gespräch 15.07.2023 12:29 Min. Verfügbar bis 13.07.2024 WDR 5


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"Das Gefühl zu denken" eröffnet einen neuen Raum. Dort lesen Menschen Theorie von Hegel über Nancy, bis Claire Lispector und erzählen, welche Erfahrungen sie gemacht haben: Was im Körper passiert, wie irritierend ein Erkenntnisprozess, wie überraschend die neue Wahrheit sein kann, all das bringt Veronika Reichl nach den Berichten ihrer Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern, ob fiktiv oder dokumentarisch, mitreißend auf den Punkt. In glasklarer Sprache erzählen die Geschichten von Denkfiguren, vom Bauchgefühl oder der Wut über unbequeme Erkenntnisse.

Vom Kompass, der in zwei Richtungen ausschlagen kann, von existenziellen Irrtümern und dem Scheitern. Und es taucht die Frage nach der ethischen Haltung auf: Wie lässt sich verantwortungsvoll handeln, welche Konsequenzen erfordert das Gelesene?

Dass sich die persönlichen Texterfahrungen stark unterscheiden, hängt mit dem Alter der Befragten zusammen: Manche erinnern sich, wie verblüffend eine Erkenntnis in ihrer Jugend war, andere ändern ihre Haltung im Laufe des Lebens oder finden erst spät zur Selbstanalyse.

Sprache und Sprachbilder spielen die Hauptrolle beim Lesen von Theorie. Veronika Reichl gibt den Geschichten übers Denken eine dramaturgische Dynamik, vom "Überschwang" über "Techniken" bis zum "anders werden". In Zitaten der wichtigen Passagen aus Philosophie und Literatur werden die Erkenntnisschritte einzeln nachvollziehbar. Zugleich bleibt das Denken mit dem "Körperregister" verbunden, schlägt Wurzeln im Kreatürlichen.

Auch Irrtümer und Scheitern sind ein Gewinn. Die gelungene Komposition bewegt sich von den monumentalen, männlich dominierten Werken hin zu einer offenen Suchbewegung und steigert sich im starken Schlussteil, wenn vom "anders werden" erzählt wird.

Veronika Reichl hat über die Visualisierung theoretischer Texte promoviert und mit den höchst anregenden Geschichten eine neue Gattung geschaffen: Ihr humorvoll essayistisches Erzählen eröffnet beiläufig einen Einblick in die wesentlichen Ansätze der Philosophie und modernen Theorie verbunden mit großem Lesegenuss. Ziemlich genial!

Eine Rezension von Bettina Hesse

Literaturangaben:
Veronika Reichl: Das Gefühl zu denken
Matthes & Seitz, 251 Seiten, 22 Euro