Valerie Bäuerlein über "Die Unvollständige"

Autorin im Gespräch

Valerie Bäuerlein über "Die Unvollständige"

Stand: 18.08.2023, 11:49 Uhr

In ihrem Debütroman erkundet Valerie Bäuerlein die Versatzstücke fremder und eigener Geschichten und Geschichte an den Grenzverläufen des Erzählens.

Die junge Regisseurin und Ich-Erzählerin möchte einen Film mit Tala drehen, bis sie von Talas plötzlichem Freitod erfährt. Sprachlos kann sie nur den gemeinsamen Wegen in Berlin nachspüren und streift durch die Stadt, streift Talas Geschichte, die ihrer iranischen Mutter und des griechischen Vaters und Gastarbeiters und die eigene. Beiläufig scheint an manchen Orten auch das Berlin im Nationalsozialismus durch.

In langen Briefen berichtet Tala von ihrer letzten Reise in die Grenzgebiete der asiatischen Städte Koh Taho, Bangkok, Laos, Hongkong, Peking, bis sie in Vladivostok in die Transsib steigt und nach Moskau fährt. Auch Tala erzählt vom unterwegs sein an Übergängen und Zwischenräumen. Beide Frauen sind Grenzgängerinnen. Doch Talas Tod scheint die Erzählerin von allem zu entfernen.

In einer Art doppelten Suchbewegung – Flanieren in Berlin und Talas schillernde Reisebeobachtungen – nähern sich die Frauen ihren unterschiedlichen Lebensgeschichten an bekannten und fremden Orten, in flüchtigen Begegnungen oder Erinnerungen. Und je tiefer sie in die Geschichten eintauchen, umso fragmentarischer wird das Bild der Erzählung und ihrer Persönlichkeiten.

Die genaue Wahrnehmung und gewählte Sprache, von Reflexionen begleitet, folgen der inneren Dramaturgie der Erzählerin. Interessant, wie die zwei Erzählstränge keiner Hierarchie unterliegen, beide bewegen sich in einem melancholisch verlorenen Kosmos.

Und es taucht die Frage auf, kann die Erzählerin Talas Tod ungeschehen machen, indem sie den Film rückwärts laufen lässt? Oder gelingt es, durch minimale Filmschnitte das Erzählte zu verändern? Ja, was lässt sich überhaupt erzählen, ohne aneignend zu sein?

In einer meditativen Bewegung zoomt der Text Erinnerungsorte heran und nutzt visuelle Eindrücke, um die eigene Geschichte zu erkunden. Reale Orte und Historie überlagern sich und erzählen von fragilen Grenzverläufen. „Die Unvollständige" kommt ohne dramaturgische Verknüpfungen aus, denn die Komposition lebt von ihrer wachen mäandernden Fließbewegung.

Eine Rezension von Bettina Hesse

Valerie Bäuerlein über "Die Unvollständige"

WDR 5 Bücher - Autoren im Gespräch 19.08.2023 10:48 Min. Verfügbar bis 17.08.2024 WDR 5


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Literaturangaben:
Valerie Bäuerlein: Die Unvollständige
Kjona Verlag, 2023
160 Seiten, 22 Euro