Als der Telefonanruf kommt, befindet sich Ich-Erzählerin Rosa auf der Arbeit. Für sie ist es ein Moment wie aus einer Daily Soap der 1990er. Die Welt steht still. Plötzlich ist alles anders. Die Kollegen schauen sie fragend an. Ja, es ist passiert. Der Vater ist gestorben. In der Wohnung, in der sie jedes Stäbchen des 60er-Jahre-Parketts kennt, wird ihr klar, dass sie nun allein ist. Allein mit den Erinnerungen an eine verrückte Kindheit in München und Tel Aviv.
Das Leben der Familie Jeruscher bestand vor allem aus Streit sowie kleinen und großen Fluchten. Die Mutter verschwand irgendwann endgültig. Die große Schwester Nadja ist nicht zu erreichen. Rosa hat mit ihr gebrochen; mehrmals. Wie bewältigt man die eigene Geschichte? Am besten, indem man sie erzählt. Und zwar nochmal von vorne.
Der Vater war aus Israel nach Deutschland gekommen, um als Chemiker zu promovieren. So lautet zumindest die Version von Großmutter Zsazsa im Altersheim in Tel Aviv. Irgendwas ging jedoch schief. Vater Jeruscher landete ohne Promotion in einem unbedeutenden Labor. Zuvor war er jedoch in den 1980er Jahren in einem Café über die ausgestreckten Beine einer Freundin von Rosas Mutter gestolpert.
Die Liebe zwischen der Deutschen mit (Schuld-)Bewusstsein für die Vergangenheit, die schon in einem Kibbuz gearbeitet hatte, und dem israelischen Chemiker hielt nicht lang. So prägten Wutausbrüche, Vorwürfe und ewige Streitereien Rosas und Nadjas Kindheit. Mal lakonisch und abgeklärt; oft langkettig, verzwickt und temporeich wie die Schlagabtausche der Eltern. Dana von Suffrins Sätze spiegeln die Beziehungsdynamiken der Familie Jeruscher wider.
Ich-Erzählerin Rosa zeichnet sich durch eine brutale Ehrlichkeit in der Beobachtungsgabe aus. Die in der Vergangenheit und ihren Komplexen gefangen Eltern kommen eigentlich nicht gut weg, dennoch kommt die Verbundenheit einer Tochter zum Ausdruck, die sich schreibend Distanz für das eigene Leben schaffen muss.
Bewundernswert sind die innovativen Bilder und literarischen Kniffe, mit denen die Autorin zum Beispiel das Verhältnis von Individuen zur großen Geschichte verdeutlicht. Schon jetzt freut man sich auf Dana von Suffrins nächsten Roman.
Eine Rezension von Mareike Ilsemann
Literaturangaben:
Dana von Suffrin: Nochmal von vorne
Kiepenheuer & Witsch, 2024
240 Seiten, 23 Euro