Buchcover: "Der arabische Diwan" herausgegeben von Stefan Weidner

Aktuelle Lyrik

"Der arabische Diwan" hrsg. von Stefan Weidner

Stand: 13.12.2024, 13:51 Uhr

Faszinierende Fremdheitserfahrung: Der Arabist und Übersetzer Stefan Weidner lädt ein, die Schätze der arabischen Poesie aus der vorislamischen Zeit zu entdecken. Robert Lewin liest "Ich mal ein Bild von ihr im Sand".

Goethe und auch die deutschen Romantiker wussten um die Bedeutung von Übersetzung, um fremde Literaturen in die eigene Sprache zu holen, und damit ein Bewusstsein für Weltliteratur zu schaffen. So publizierte Friedrich Rückert 1846 eine Übertragung der ältesten arabischen Volkslieder. Dann aber geriet die frühe Poesie von der arabischen Halbinsel, dieser "Kernbestand des poetischen Kulturerbes der Menschheit" in Vergessenheit.

Ein unhaltbarer Zustand für den Arabisten und Übersetzer Stefan Weidner: Er hat nun mit "Der arabische Diwan" die umfangreichste Zusammenstellung und Neuübersetzung der schönsten Gedichte aus vorislamischer Zeit seit Rückert vorgelegt. Zimperlich geht es in den zum Teil mehr als 1500 Jahre alten Gedichten nicht zu. Sie entstanden in einer archaischen Welt der Kamelkarawanen, Handelsstationen, Oasen und endlos weiten Wüsten.

"Manch einen Gatten, hab ich platt gemacht, die Halsschlagadern klafften gleich einer Hasenscharte. Bevor er mich traf, traf ich ihn, ein schneller Schlag – das Blut schoss rot aus seiner großen Wunde", proklamiert der Dichter Antara bin Scheddad in dem Langgedicht "Liebe, Krieg und Dichtung", eines der berühmtesten und in vielen Variationen existierenden Gedichts der vorislamischen Zeit.

Schlacht-, Enthauptungs- oder sogar Vergewaltigungsszenen sind aber nicht zwingend als Beschreibung von Realität zu verstehen. Die Gedichte wurden zu einer Zeit, als es die europäischen Nationalliteraturen noch gar nicht gab, laut vorgetragen, als Performance, und so über Jahrhunderte von Generation zu Generation weitergegeben. Der Vortrag hatte den Zweck der Selbstbehauptung, der Abreaktion; das Gedicht fungierte als Sprechakt, der Gefühle kanalisierte und tatsächliche Handlungen ersetzt.

Gleichzeitig galt es dabei, den Sprachgebrauch weiter zu variieren, sich im Arabischen zu üben, die Dichtung zu verfeinern. Diese Hintergrundinformationen liefert Stefan Weidner in einem sehr informativen Vorwort, quasi einer kleinen Einführung in die Arabistik. Kapitel zu den einzelnen Dichtern ergänzen die mehr als tausend Strophen. Es hätte keinen besseren Experten als Weidner geben können, diesen Schatz der Weltliteratur für die Gegenwart zu heben. Als Übersetzer ist Weidner ein Experte darin, Brücken zwischen Welten und Zeiten zu schlagen.

Und so "updated" Weidner auf beeindruckende Weise die vorislamischen Gedichte in arabischer Sprache für deutsche Leser im 21. Jahrhundert. Zum Bespiel könnten folgende Zeilen des "Liebesnarrs" Madschnǔn über eine gewisse Laila als Tiktok- Song sofort Tausende von Followern erreichen: "Ich sprech zu ihrem Bild im Sand, als hätte auch der Sand Verstand. (…)Die Sehnsucht macht mein Herz ganz kirre, ich bin wirklich von ihr irre.“ Und das ist doch heutzutage in jeder Hinsicht wirklich ein großes Kompliment.

Eine Rezension von Mareike Ilsemann

Literaturangaben:
Stefan Weidner (Hg.): Der arabische Diwan
Die schönsten Gedichte aus vorislamischer Zeit
Aus dem Arabischen und mit einem Vorwort von Stefan Weidner
Die andere Bibliothek, 2024
420 Seiten, 48 Euro