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Buchcover: "Mutabor" von Polina Barskova

Aktuelle Lyrik

"Mutabor" von Polina Barskova

Stand: 18.08.2023, 12:04 Uhr

Die 1976 in Leningrad geborene Polina Barskova lebt und lehrt in den USA. In ihrer Heimatstadt sind ihre Texte nicht mehr öffentlich zugänglich. Jetzt ist ihr erster Lyrikband auf Deutsch erschienen. "Mutabor" heißt das Werk und bedeutet in der Übersetzung aus dem Lateinischen "Ich werde verwandelt werden".

Der programmatische Titel ist auch eine Reminiszenz an das Wilhelm Hauff Märchen vom "Kalif Storch“, in dem Menschen u.a. zu Störchen mutieren. Denen ist es auferlegt, nicht zu lachen, weil sie dann den Zauberspruch "Mutabor" vergessen und sich nicht mehr in Menschen rückverwandeln können.

Viele der Gedichte von Polina Barskova in "Mutabor" sind unter dem Eindruck der Scheidung von ihrem Mann entstanden, aber noch mehr drängte sich ihr ein Thema auf, das sie selbst so formulierte: "Vielleicht ist das mein wichtigstes Thema - das Gespräch mit den Toten. Meine Mutter ist gestorben, sie war immer meine erste Leserin und Zuhörerin, meine Muse. Dann kam Covid. Und dann begann der Krieg. Eine Katastrophe nach der anderen. Und die Katastrophe ist der Moment, in dem sich die Sprache ändern muss, damit sie uns und unsere Forderungen neu zum Ausdruck bringen kann."

Polina Barskova schreibt über Verwandlungen, Metamorphosen und Mutationen. Realität und Fiktion verschwimmen zu einer poetischen Fläche, wobei nicht immer klar ist, ob die Realität die Fiktion ist oder umgekehrt. Viel Biographisches erfahren wir, Verrückte und Aus-dem-Leben-Gefalllene bevölkern ihre Gedichte und es gibt eine raue Menge von Anspielungen und Verweisen, die in einem anhängenden Kommentar erläutert werden.

Der Anfang des Gedichtes "Musikalische Form" gibt einen Eindruck , was Leserin und Leser in "Mutabor" erwartet. "Menschen Löwen Adler Rebhühner / Doch in erster Linie Menschen / Bringt mir seinen Kopf auf dem Silbertablett / Ich wünsche mit seinem Kopf zu sprechen. / Tröstet mich nicht mit abgeschmackten Beteuerungen eines Wunders / ‚Womöglich lebt er noch‘ / Ich weiß es: Er lebt nicht."

Leicht bis mittelschwer surreal sind die Gedichte von Polina Barskova, aber sie haben durchaus auch Humor, was dazu geführt haben dürfte, dass man Polina Barskova eine traditionelle Nähe zu Daniil Charms nachsagt. Was mit Sicherheit nicht das Schlechteste ist, was man einer Autorin bescheinigen kann.

Bleibt noch festzuhalten, dass „Mutabor“ einen Zyklus über die Blockade Leningrads im Zweiten Weltkrieg enthält, der mindestens interessant ist.

Eine Rezension von Matthias Ehlers

Literaturangaben:
Polina Barskova: Mutabor Zweisprachige Ausgabe Deutsch / Russisch
Aus dem Russischen und Nachwort von Daniel Jurjew
Carl Hanser Verlag, 2023
160 Seiten, 24 Euro