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Buchcover: "Such nach dem Namen des Windes" von Olga Martynova

Aktuelle Lyrik - Ein Gedicht

"Such nach dem Namen des Windes. Gedichte" von Olga Martynowa

Stand: 16.07.2024, 12:53 Uhr

Olga Martynova ist eine russische Schriftstellerin. Sie scheibt Essays, Gedichte, Romane, Kritiken und übersetzt. Seit 1990 lebt die in Sibirien geborene und in Leningrad aufgewachsene Literatin in Deutschland.

Für ihr künstlerisches Schaffen bekam Martynova u.a. den Ingeborg-Bachmann-Preis verliehen. Sie lebt in Frankfurt am Main und war mit dem Autor Oleg Jurjew verheiratet, der 2018 starb.

Nun wird Martynovas vielseitiges Schaffen durch einen neuen Gedichtband ergänzt. "Such nach dem Namen des Windes" unterteilt sich in Kapitel, die sich jeweils einem Thema nähern und es umkreisen.

Schon das erste Gedicht, welches das unsagbare Leid der Shoah thematisiert, hat es in sich. Basierend auf einem jiddischen Volkslied und einem Zitat Jean Amérys, schwillt es an wie ein mächtiges Hochwasser. Wie Regentropfen prasseln unermüdlich die abwesenden elementaren Bedürfnisse auf die Leserschaft ein. Ein mitreißendes Wehklage-Crescendo. "Wehs mir, vu nemt men / gelbe Birnen und wilde Suppe / a bisele Wasser / und der Schatten brüllt"

In den weiteren Gedichten dieses Zyklus spürt Martynova dem untergegangen aschkenasischen Judentum vom Kaukasus bis nach Israel hinterher. Folgt Schlieren der Erinnerung, Spuren von Vergangenem in einer Gegenwart, die vollends in Beschlag nimmt. Natürlich geht es hier auch um die Ahnungslosigkeit und Hilflosigkeit des Menschen in einer brüchigen Zivilisation, die jederzeit von der Barbarei eingeholt werden kann. Dieses Unbehagen, diese glimmende Beklommenheit wissen zu fesseln.

Vergänglichkeit beschäftigt Olga Martynova und zieht sich thematisch durch viele ihrer Poeme. Vergänglichkeit in all ihren Formen und menschlichen Gefühlsreaktionen. Natürlich, gewaltsam. Schmerzhaft, apathisch, teilnahmslos, beobachtend. Martynova bedichtet hier Sein und Nichtsein, Blühendes, Verwelkendes, Vorübergehendes und Ewiges. Sie reist auf der Zeitachse hinauf und runter, dass es einen schwindeln kann. Ihre Gedanken und Verse durchqueren dabei mühelos Raum und Epochen. Martynova geht in Wien genauso selbstverständlich spazieren wie in der Antike. In der Welt und deren Büchern ist sie zuhause.

Die Gedichte atmen eine kosmopolitische, weltläufige Gedankenwelt, einen ausufernden intellektuellen Horizont bei einer zugleich knappen Ausdrucksform. Martynova tritt auch in Kommunikation mit verblichenen Weggefährtinnen und Weggefährten wie Elke Erb, Jelena Schwarz und allen voran ihrem verstorbenen Gatten Oleg Jurjew.

Herzzerreißend und anrührend sind dieses Begegnungen und reichen von nacktem rohen Schmerz bis zu sublimierter Verarbeitung von Trauerbewältigung und Trost. "Wir waren einander Mond und Sterne, Wein und Brot, Erde und Feuer, Wasser und Luft, Glatteis und Rad, Minuten und Zifferblatt, Regen und Wurm, Fliegen und Frösche, Bau-, Gold- und Jauchegruben, Funktürme und Turmfalken, Ekzem und Balsam, Krähe und Aug, Durst und Suff, U-Bahnen und Eselsbrücken. Es gebe all das nicht mehr, wollte ich sagen, aber alles ist komischerweise noch da, voneinander getrennt, doch ineinander verfangen (wie wir jetzt), todsicher beides."

Martynova sucht unermüdlich, klopft die Welt ab auf der Suche nach Überbleibseln, Abbildern, Wiedergängern und Reinkarnationen. Stellt existentielle Fragen nach dem was bleibt von einem Menschen. Neben dem persönlichen Leid hat Martynova auch ein Dichterinnnenherz für das kollektive Leid. Pogrome, Kriege. Die mutige russische Nachrichtensprecherin Marina Owsjennikowa inspirierte sie zu einem Text über den russischen Angriff auf die Ukraine. Das Thema überführt sie in einen ebenso grotesken wie fantasievollen Theaterdialog.

Olga Martynova ist eine überaus belesene Literatin. Ihre schriftstellerischen Vorbilder und Einflüsse sind hier wie Freunde, zu denen sie in ihren Gedichten spricht. Die Verse ihres neuen Gedichtbands sind so häufig Repliken, Fortführungen oder Zwiegespräche mit Pushkin, Montale, Mandelstam oder Dante. So entstehen anspielungsreiche

Beziehungsgeflechte und Referenzsysteme. Stilistisch operiert Martynova mit dem Einsatz einer Vielzahl verschiedener Mittel. Es finden sich diverse Wortschöpfungen und originelle grafische Einfälle. Ihr Stil ist sperrig und kantig, unorthodox. Sorgsam komponiert und arrangiert, opak, hermeneutisch, teilweise fast abstrakt. Martynova liebt auch das Spiel mit Verschiebungen von Proportionen. Gerne stellt sie Gegensätze in unerwartete Beziehung zueinander: Große Wörter versus kleine Gesten, pathetisch versus lapidar, fantastisch, mythologisch versus real und banal - und erzielt durch dieses kontrollierte Aufeinanderprallen verblüffende Effekte: "Wieder war die Elster da: die Schwarz-Weiß-Grenze im Flug, es gibt und es gibt nicht(s) zugleich. Wenn sie mit Geschenken hierherkommt, ist es, als wäre es möglich, ihre Botschaft – wie sie eine Walnuss – zu knacken. Lach nicht, ich weiß, dass das Quatsch ist. (Botschaften von hinter-der-Elstergrenze sind unwahrnehmbar wie das Entsetzen einer Walnuss.) Elster, fragte ich sie, habt ihr Wi-Fi dort? Sie sagte mit Novalis: "Laßt die Libellen ziehn." Akademikerinnen, Akademiker und Hobbygelehrte werden ihre Freude an diese eklektischen literarischen Regenbogen haben.

Laien und Nichteingeweihte regt der Gedichtband indes eher zum Grübeln an, als dass er einen unmittelbar sinnlichen Genuss darstellt. "Such nach dem Namen des Windes" ist sicher nicht jedermanns Sache. Man muss sich darauf einlassen - wach, geduldig, ohne Erwartungen. Sich neugierig von der Autorin bei der Hand nehmen und hinfort tragen lassen. Sich verlieren können in diesen bedeutungsschweren Satz- und Sinnlabyrinthen. Die Erweiterung des eigenen Bewusstseins ist selten so günstig und gesund zu haben.

Eine Rezension von Moritz Holler

Literaturangaben:
Olga Martynova: Such nach dem Namen des Windes. Gedichte
S.Fischer, 128 Seiten, 25 Euro