Aktuelle Lyrik - Ein Gedicht
"Babyn Jar. Stimmen" von Marianna Kijanowska
Stand: 23.08.2024, 14:58 Uhr
Das Massaker von Babyn Jar, einer Schlucht nahe Kiew, am 29. Und 30. September 1941, war das größte Einzelmassaker während des Zweiten Weltkriegs und der Schoah. Fast 34.000 Menschen jüdischer Abstammung wurden von der Angehörigen der deutschen Wehrmacht, Einsatzgruppen und lokalen Helfern ermordet.
Bis heute wird dieses furchtbare Ereignis medial und kulturell außerhalb Israels wenig thematisiert. Die ukrainische Dichterin Marianna Kijanowska hat nun einen Gedichtband veröffentlicht, der sich ausschließlich mit dem Massaker von Babyn Jar befasst. In 67 Gedichten verleiht Kijanowska 67 Opfern und Augenzeugen eine fiktive Stimme.
Das Ende von allem. Der Welt. Der Nachbarn. Der Lehrerin. Dem Lebensmittelhändler. Es sind Kinder, Söhne, Väter, Nichten, Mütter, Enkel, Kusinen, Nachbarn, Freunde, Konkurrenten – einfach alle werden ermordet: "alles was ich habe die familie alle wurden getötet in der schlucht".
Als die Deutschen am 29.9.1941 die Tore zur Hölle öffnen, erfolgt binnen Stunden die Auslöschung einer unglaublich reichhaltigen, Jahrtausende alten und gleichzeitig so lebendigen Kultur. Und mit ihr Menschen, so unschuldig wie Morgentau, denen das Recht zu leben abgesprochen wurde. Kijanowska bringt Licht in die endlose Dunkelheit, die sich hier noch heute auftut. Durch die Wahl der Ich-Perspektive gibt die ukrainische Dichterin der angesichts ihrer schieren Zahl anonymen Opfermenge einzelne Gesichter und Stimmen. Durch die Verleihung von Individualität gibt Kijanowska ihnen ein Stück Menschlichkeit und somit Würde zurück.
Die 67 hier versammelten Gedichte unterscheiden sich teilweise stark in Ton, Stil, Duktus, Haltung und Emotion. Es gibt Litaneien, gelehrte Reflexionen, Zores, jiddische Syntax. Dass der Tod der große Gleichmacher ist, stimmt hier nur bedingt. Jede und jeder geht diesen furchtbaren letzten Weg in die Schlucht von Baby Jar anders. Die banalsten bis rührendsten Dinge gehen da durch die Köpfe: "meine tauben sind gefangen wer lässt sie denn morgen früh frei im schlag kommen sie doch um und haben nicht das kleinste körnchen".
Zwar unterliegt dem ganzen Gedichtband ein kilometertiefer, endzeitlicher Bordunton, doch sind es so viele Menschen, die hier zu Wort kommen, dass ihre Fülle an Gedanken in alle Himmelsrichtungen, in viele Themengebiete und in alle Gefühlsregister hinein mäandert. Im Todesstrudel vermischen sich bis zuletzt die widersprüchlichsten Gedanken. Der gewaltsame Tod hat jedenfalls ganz und gar nichts Erhabenes.
Bis zur letzten Minute ist es eine einzige physische und psychische Qual. Die eine versteht bis zum Schluss nicht, was da geschieht. Der andere hat in seinen letzten Augenblicken ein geschärftes Bewusstsein und fast hellseherische Fähigkeiten. Die nächste macht der anderen Vorwürfe: „der sohn ist mir genommen sei von nun an verflucht du lebst und er ist vergangen“. Ein anderer wiederum spottet in tiefster Verzweiflung seinem Gott: „fürchte weder die kugel noch etwas anderes schmerz bin ich und mehr als schmerz das herbstliche wetter schwer ist nur dass ich g-tt nicht lebewohl sagen konnte so muss ich glauben und sei’s ohne rettung“. Jeder einzelne Moment ist eine Tortur. Abstumpfung, Tunnelblick – nein, die Menschen erleben ihr Ende und das Eintreten des Todes bei vollem Bewusstsein.
"Kijanowska zeigt das Gehen in den Tod als eine nicht enden wollende Gegenwart, in der sich Vergangenes, Zukünftiges und Überzeitliches ineinanderschieben", schreibt Claudia Dathe in ihrem lesenswerten Nachwort.
Die Autorin nähert sich dem wohl organisierten deutschen Chaos des Grauens also bruchstückhaft. Im Kleinen findet sie das zutiefst Menschliche. Die kleinen Regungen, unwichtige, irrlichternde Gedanken. Das Beiläufige erhält vermutlich auch deswegen Bedeutung, weil die neue tödliche deutsche Unordnung bereits Einzug gehalten hat. Die natürliche Harmonie wurde bereits aus den Fugen gehoben. Und so herrscht nun Chaos, in den Gedanken, der äußeren Welt, alles ist in Aufruhr. "in kyjiw ist was passiert nicht mit den juden sondern mit der zeit die zeit hat keine zukunft mehr die zeit hat keinen tag mehr keine stunde für ruhe der krieg und die razzien körper auf dem weg an den wänden da und dort blut".
Dass nichts mehr wie vorher ist und nie wieder sein wird, transportiert hier der beiläufige Inhalt der Verse genauso wie die mündlich wirkende Form der Gedichte Kijanowskas. Kurze Gedanken sind es zumeist, hastig erdacht inmitten tosender Gewalt und Zerstörung. Dieser orale Aspekt tritt hier immer wieder deutlich zutage. Dicht gedrängt vorgetragene, endlose Wortketten. Atemlos, haspelnd hervorgebracht. Dieser intensive Eindruck entsteht etwa durch die hier verwendete Orthographie (keine Groß- und Kleinschreibung) und fehlende Interpunktion. So entsteht Dringlichkeit. Das Ontologische, Lebensbedrohliche kommt so sehr gut rüber. Daneben betont Kijanowska auch immer wieder das rein Physische der Angst: "er verbrachte die nacht auf dem baum musste sich dauernd übergeben und wusste nicht ob er abstürzt war aus angst sagt er klatschnass geschwitzt".
Kijanowska gelingt mit "Babyn Jar. Stimmen" ein beeindruckendes Panorama des Untergangs bestehend aus einer Vielzahl Porträts und Momentaufnahmen. Alles wird hier zu einem dichten Textgewebe versponnen. Es gibt Anspielungen auf den Talmud, auf Sowjetpropaganda, auf das Nazideutsch. Auch nichtjüdische Mitläufer, Denunzianten und Zeugen kommen zu Wort. Kijanowska hat sich mit dieser lyrischen Zeitmaschine wirklich Mühe gemacht und reüssiert. "Babyn Jar. Stimmen" wird dem Ernst des Themas vollauf gerecht. Der Gedichtband verleiht dem Horror eindringlichen Zeugnischarakter. Bewerkstelligt wird dieses heikle Unterfangen mit viel Einfühlungsvermögen, Stil und Anstand.
Bombast, Kitsch oder voyeuristischer Grusel müssen draußen bleiben. Es ist auch nicht reißerisch, plakativ oder eindeutig was Kijanowska hier macht. Sie schafft es, das Ausmaß und die Monstrosität des Massakers anhand der Schilderung subjektiven Erlebens zu zeigen. Ihre Fiktion kommt der Realität vermutlich sehr nahe. Kijanowska gibt ihrer Leserschaft ein präzises Gefühl des Ausgeliefertseins, der völligen Aussichts- und Hilflosigkeit. Bedrückend ist das, beklemmend und unendlich bitter. Denn sie hält in den letzten Momenten "voll drauf". Es ist das Gegenteil falscher Pietät, in derartigen Situationen schnell wegzuzoomen. Die Zumutung ihres Ablebens müssen wir aushalten.
Eine Rezension von Moritz Holler
Literaturangaben:
Marianna Kijanowska: Babyn Jar. Stimmen
Gedichte, Ukrainisch und deutsch
Übersetzt aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe
Suhrkamp, 160 Seiten, 24 Euro.