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12.12.2019 – Olga Neuwirth, "Orlando" an der Wiener Staatsoper

Stand: 12.12.2019, 12:25 Uhr

Zum ersten Mal gab es an der Wiener Staatsoper die Uraufführung eines Werks einer Komponistin:  Olga Neuwirths "Orlando". Das klingt spektakulär oder – je nach dem - skandalös. Es ist nun mal eine Tatsache, dass Komponistinnen erst seit wenigen Jahrzehnten im Opernbereich mitspielen. Aber wenn sie gut sind, werden sie auch gespielt, die Werke von Adriana Hölszky, Kaija Saariaho, Chaya Czernowin, Isabel Mundry oder Lucia Ronchetti. Vielleicht ist es ja noch etwas anderes, wenn die altehrwürdige Wiener Staatsoper auf diesen Zug der Zeit springt.

Noch dazu, wenn Olga Neuwirth sich in ihrem neuesten Werk, ihrem sechsten für das Musiktheater, explizit mit der Genderthematik auseinandersetzt. "Orlando" geht auf den gleichnamigen Roman von Virginia Woolf von 1928 zurück:  ein junger Adliger und Dichter im elisabethanischen Zeitalter fällt in einen mehrtägigen Schlaf, aus dem er als Frau erwacht. Nun streift sie durch die Zeiten bis ins 20. Jahrhundert und muss erleben, dass sie als Schriftstellerin nicht ernst genommen wird und auch in ständigen Konflikt mit den Rollenklischees gerät.

Es ist ein bild- und ereignisreicher Roman, dem Olga Neuwirth eine eigene Wendung gibt, indem sie das Ideal des Dazwischen-Seins und der fließenden Identitäten betont. Diese oder dieser Orlando tritt in Wien in Person von Kate Lindsey auf, von der man nicht gerade sagen kann, dass sie von androgyner Gestalt sei, sondern ganz und gar eine schöne Frau, gerade auch in den Kostümen des Labels Comme des Garçons. Nur mit Hintersinn wird man in dem wallenden roten Kleid mit der breiten Schulterpartie und dem weit ausladenden Unterteil eine Dopplung von männlich und weiblich erkennen. Erst einmal ist es ein aufwändiges, prachtvolles Kostüm und nicht Orlandos einziges an diesem Abend, wie überhaupt die Kostüme der dreißig Darsteller den optischen Haupteindruck der Aufführung machen.

Leigh Melrose als Shelmerdine und Kate Lindsey als Orlando in "Orlando" von Olga Neuwirth

Leigh Melrose als Shelmerdine und Kate Lindsey als Orlando in "Orlando" von Olga Neuwirth

Olga Neuwirth bezeichnet Virginia Woolfs Roman als prägende Jugendlektüre und ihre Oper "Orlando " als ihr opus summum. Dementsprechend opulent ist die Musik, dabei gar nicht mal bombastisch, sondern im Kleinen vielgestaltig. Entlang der Zeitzonen, in denen sich der Roman und die Oper bewegt, sind dem flirrenden Avantgardetonfall - inklusive Mikrotonverschiebungen - Klänge alter Musik eingemischt, ohne am Wohlklang der Vergangenheit zu nippen. Am Anfang englische Ayres, wenig später glaubt man Purcells Frost Scene aus "King Arthur" zu vernehmen. Und so geht es weiter bis in das letzte und unser Jahrhundert hinein. Denn Olga Neuwirth und ihre Librettistin Catherine Filloux schreiben "Orlando" fort. Der zweite Weltkrieg, Konzentrationslager, Hiroshima, die 68er, Flower Power, bis hin zu sexueller Diversität und Fridays for Future, alles wird aufgerufen. Es spielt dann eine Band auf der Bühne, und auch im Orchestergraben haben sich die E-Gitarre, Drums, Sampler und allerlei Elektronik versteckt, umsichtig geleitet von Matthias Pintscher. Auf der Bühne wird das Geschehen durch bewegliche Stelen, auf denen Videos zu sehen sind, verdeutlicht.

Leider wirkt die Fortschreibung in unsere Zeit reichlich unverbindlich, geradezu plakativ. Eine Dramaturgie gibt es eigentlich nicht. Es ist eine bloße Reihung von Einfällen, die auch nicht durch die Figur der Erzählerin (Anna Clementi) zusammen gehalten werden und auch nicht durch die Regie von Polly Graham, die das Personal mehr oder weniger nur auf- und abtreten lässt. Diese Einfälle aber haben für sich genommen immer wieder Qualität, etwa wenn Orlandos Kind in Person der Transgenderkünstlerin Justin Vivian Bond auftritt und so gar nicht opernhaft singt oder wenn plötzlich auch die Requisiten tönen, der Boxsack am Anfang, der Teetisch später, an dem die Orlando den Dichterkollegen servieren muss, obwohl sie diskutieren will.

Olga Neuwirth sagt, sie habe ein "Gattung sprengendes" Werk schaffen wollen mit "Liebe zum Seltsamen…, zur Kunstfertigkeit, Überhöhung und Übertreibung", und zwar "Szene um Szene… eine nach der anderen", angetrieben von einer ja durchaus berechtigten Aversion gegen eine "jahrhundertelange phallokratische Logik".

Neuwirth ist musikalisch zu klug, um ein bloßes Gender-Agitationsstück zu schreiben, aber ihre Art der ungestümen Zurückhaltung, das bloße füllhornmäßige Aufzeigen führt aufs Ganze gesehen dazu, dass diese/r Orlando in eine beobachtende und geradezu duldende Rolle gerät oder wie es die Hauptdarstellerin Kate Lindsey treffend ausgedrückt hat, in eine Art von passiver Präsenz, inmitten dieses überbordenden Getümmels aus Klängen, Kleidern, Katastrophen und komponiertem Kalkül.

So ist Olga Neuwirths fast drei Stunden langer "Orlando" sehr viel und sehr wenig zugleich.

Uraufführung 08.12.2019, besuchte Vorstellung: 11.12.2019

In WDR 3 Oper am 22.03.2020

Besetzung:
Orlando: Kate Lindsey
Narrator: Anna Clementi
(Guardian) Angel: Eric Jurenas
Queen/Purity/Friend of Orlando's child: Constance Hauman
Shelmerdine/Greene: Leigh Melrose
Pope: Christian Miedl
Orlando's child: Justin Vivian Bond
Sasha/Chastity: Agneta Eichenholz
Modesty: Margaret Plummer
Dryden: Marcus Pelz
Addison: Carlos Osuna
Duke: Wolfgang Bankl
Doctor 1, 2 und 3: Wolfram Igor Derntl, Hans Peter Kammerer, Ayk Martirossian
u.v.a.

Orchester der Wiener Staatsoper
Chor und Chorakademie der Wiener Staatsoper

Musikalische Leitung: Matthias Pintscher
Libretto: Catherine Filloux und Olga Neuwirth
Inszenierung: Polly Graham
Bühnenbild: Roy Spahn
Video: Will Duke
Kostüme: Comme des Garçons
Licht: Ulrich Schneider
Choreinstudierung: Thomas Lang, Stefano Ragusini,Svetlomir Zlatkov
Dramaturgie: Helga Utz