Drei Monate Krieg: "Ohne westliche Waffen wäre die Ukraine längst überrollt worden"

Stand: 24.05.2022, 09:34 Uhr

Vor zwölf Wochen hat Russland die Ukraine überfallen. Drohen langjährige Stellungskämpfe wie im Ersten Weltkrieg? Welche Rolle spielen westliche Waffen? Und wann endet der Krieg? Ein Experten-Gespräch.

Der Journalist Thomas Wiegold ist Spezialist für Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Er schreibt für verschiedene Medien und betreibt den preisgekrönten Blog "Augen geradeaus!", der sich mit Militärthemen beschäftigt.

WDR: Viele Menschen blicken heute zurück auf drei Monate Krieg. Wir wollen vorausblicken: Wann und wie wird dieser Krieg enden?

Thomas Wiegold: Eine solche Glaskugel besitze ich leider auch nicht. Was wir aber sehen, ist ein Stellungskrieg, in dem Russland längst nicht so viele Ziele erreicht hat wie angekündigt. Trotzdem bringen die russischen Streitkräfte im Osten der Ukraine zunehmend Städte unter ihre Kontrolle. Offensichtlich soll zunächst das Ziel erreicht werden, den Donbass mit den Bezirken Luhansk und Donezk unter russische Kontrolle zu bringen. Hier soll quasi eine Teilung des Landes zementiert werden.

WDR: Wie genau sieht die russische Strategie aus?

Wiegold: Schwer zu sagen. Angekündigt war ja die Demilitarisierung, die - wie es hieß - "Entnazifizierung" der Ukraine. Die Regierung in Kiew sollte abgesetzt werden. Das hat nicht geklappt. Ob sich Russland mit den Geländegewinnen im Osten und Süden der Ukraine zufrieden gibt, ist eine Frage, die sich im Moment viele Menschen stellen.

WDR: Wie sieht es mit der Moral der russischen Truppen aus? Spielt das eine große Rolle?

Wiegold: Der Kriegsverlauf hat sich verheerend auf die Moral ausgewirkt. Es gibt viele Berichte von gefangenen russischen Soldaten, die gar keine Ahnung hatten, wo sie hingeschickt wurden. Die waren der Meinung: Das wird ein Spaziergang, wir werden als Befreier empfangen. Doch dann kamen die Verluste und die militärischen Erfolge der Ukraine, die angesichts der russischen Übermacht niemand erwartet hätte.

WDR: Beobachter ziehen schon Vergleiche zur Schlacht von Verdun im Ersten Weltkrieg: Droht ein langer Stellungskrieg mit hohen Verlusten, der letztlich kaum in Bewegung gerät?

Wiegold: Es ist nicht auszuschließen, dass es einen festgefahrenen, festgefressenen Krieg gibt wie vor über 100 Jahren. Die Frontlinie, beschönigend auch "Kontaktlinie" genannt, besteht ja schon seit 2014, als mit russischer Hilfe Separatistengebiete errichtet wurden. Dort haben sich auf der anderen Seite ukrainische Kämpfer eingegraben, es gibt befestigte Stellungen, so dass dort der Krieg hin- und herwogt, wenn man das so sagen kann. Einmal erobern die Russen Städte und Gebiete, dann können die Ukrainer teilweise zurückschlagen - auch mit Hilfe der schweren Waffen aus dem Westen.

WDR: Zu Kriegsbeginn war der Westen zögerlich, was Waffenlieferungen anging. Das hat sich nun geändert. Macht das den entscheidenden Unterschied aus?

Wiegold: Ohne die westlichen Lieferungen wäre die Ukraine wahrscheinlich längst überrollt worden. Die amerikanischen Haubitzen, die Panzerabwehrwaffen - das alles hat dazu geführt, dass die Ukraine überhaupt dorthin gekommen ist, wo sie jetzt steht. Ob allerdings noch mehr Waffen das Blatt grundsätzlich wenden können, bleibt offen.

Das Interview wurde am 24.5.2022 im WDR 5 Morgenecho geführt und für diese Online-Version sinnerhaltend gekürzt und bearbeitet.

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