Einigung im Getreide-Krieg - darum ist trotzdem Skepsis angebracht

Stand: 22.07.2022, 18:07 Uhr

Mit Getreide-Blockaden und gezielten Angriffen auf die ukrainische Landwirtschaft fördert Russland den Hunger in der Welt. Nun gibt eine Einigung Grund zur Hoffnung - zu Recht? Die Hintergründe zum russischen Korn-Krieg.

Von Timo Landenberger

Die "Star Helena", 229 Meter lang und 32 Meter breit, kann gut 82.000 Tonnen Getreide laden; das Schiff gehört zu den größten Getreide-Frachtern der Welt. Doch seit Anfang März liegt es im Schwarzmeer-Hafen von Chornomorsk südlich von Odessa und kann nicht auslaufen. Der Seeweg ist seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine blockiert.

Könnte sich das bald ändern? Nach einem Treffen der beiden Kriegsparteien sowie der Vereinten Nationen vergangene Woche in Istanbul wurde am Freitagnachmittag eine Vereinbarung unterzeichnet. Diese sieht ein gemeinsames Kontrollzentrum in der Türkei vor, das von der UN geleitet und mit Vertretern Russlands, der Ukraine und der Türkei besetzt sein soll.

So soll die Ausfuhr von Millionen Tonnen Getreide über festgelegte Korridore gemeinsam überwacht und gleichzeitig sichergestellt werden, dass Schiffe mit dem Ziel Ukraine keine Waffen geladen haben. Dennoch scheint weiterhin Skepsis geboten.

Russland-Experte Mangott: Eine Aufgabe der Blockade wäre ein unerwarteter Politikwechsel

Russland-Experte Gerhard Mangott von Universität Innsbruck.

Gerhard Mangott

Es sei sehr erfreulich, wenn die "angebliche Einigung" dazu führen würde, dass ukrainische Getreideexporte wieder die Häfen verlassen könnten, sagt der Politikwissenschaftler und Russland-Experte Gerhard Mangott.

Doch auch nach der Unterzeichnung könne es bei der Umsetzung gezielte Verschleppungen geben. Durch die Teilnahme an den Verhandlungen habe Russland womöglich lediglich Gesprächsbereitschaft signalisieren wollen, so Mangott. Damit sei es leichter, die Schuld für die Lebensmittelblockade von sich zu weisen und die Ukraine oder die westlichen Sanktionen verantwortlich zu machen, sollte die Umsetzung der Vereinbarung scheitern.

Denn eine Aufgabe der Blockade käme einem unerwarteten Politikwechsel seitens Russlands gleich, sagt Mangott. Auch der WDR-Korrespondent in Moskau, Demian von Osten, betont, noch könne das Abkommen jederzeit scheitern. Schließlich gebe es manchmal auch "Entgegenkommen als taktische Spielchen mit dem Westen."

250 Schiffsladungen Getreide lagern derzeit in der Ukraine

Das Getreide, das in den ukrainischen Häfen verladen wird, wird im Norden Afrikas und im mittleren Osten dringend benötigt. Mehrere Länder in der Region sind stark von den Lieferungen aus der Ukraine und aus Russland abhängig. Ägypten etwa, das einwohnerstärkste Land Nordafrikas, bezieht mehr als 80 Prozent seines Weizens aus den beiden Ländern.

Doch was tun mit all dem Getreide, das in vielen dutzenden Silos in ukrainischen Häfen auf den Weitertransport wartet, wenn die Vereinbarung doch noch scheitert oder Russland die Umsetzung verschleppt? Um eine einzige Ladung der "Star Helena“ auf die Straße zu bringen, bräuchte es 3.280 Lkw.

82.000 Tonnen Getreide kann man auf ein Schiff, auf 41 Züge oder auf 3.280 Lkw verladen.

Ein Getreide-Frachter kann 82.000 Tonnen laden. Das entspricht der Kapazität von 41 Zügen oder 3.280 Lkw.

Allerdings geht es nicht nur um eine Schiffsladung. Nach Angaben der UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) stecken derzeit rund 20 Millionen Tonnen Getreide in der Ukraine fest. Also knapp 250 Schiffsladungen. Oder 800.000 Lkw.

Wie setzt Russland Hunger als Waffe ein?

Der russische Angriff auf die Ukraine ist längst mehr als ein Territorialkrieg. So nehmen die russischen Truppen gezielt die ukrainische Agrarproduktion, Getreidelager und die entsprechende Infrastruktur ins Visier. Insbesondere die Blockade des Seeweges verhindert den Export von Lebensmitteln aus dem Land. Doch wozu das Ganze?

Einerseits will Russlands Präsident Wladimir Putin die ukrainische Wirtschaft, die zu großen Teilen auf Agrar-Exporten aufbaut, schwächen. Andererseits sei es aber auch der Versuch, Nahrungsmittel gezielt vom Weltmarkt fernzuhalten, Hungersnöte im globalen Süden zu verschärfen, Flüchtlingsströme auszulösen und Europa zu destabilisieren, sagen viele Experten. David Beasley, der Direktor des Welternährungsprogramms befürchtet gar "die größte humanitäre Katastrophe seit dem zweiten Weltkrieg".

Die ukrainische Regierung spricht von "Lebensmittelterrorismus". Auch zahlreiche westliche Regierungen verurteilen das Vorgehen Moskaus aufs Schärfste. "All dies kann nur als geopolitisch motivierter Angriff auf die globale Ernährungssicherheit gewertet werden", heißt es in einer Erklärung der G7-Staaten vom jüngsten Gipfeltreffen in Bayern Ende Juni.

Die ukrainische Regierung hat Moskau bereits mehrfach umfangreichen Getreide-Diebstahl vorgeworfen. Stichhaltige Beweise gibt es dafür nicht. Recherchen der "Financial Times" und Satellitenbilder legen jedoch nahe, dass Russland die besetzten Häfen auf der Halbinsel Krim dafür nutzt, größere Mengen Lebensmittel aus dem Land zu schmuggeln.

Zahlen der russischen Getreideunion RZZ zufolge hat Moskau den Export eigener Agrarerzeugnisse eingeschränkt, was die Krise zusätzlich verschärft. Ziel sei, die Preise auf dem Weltmarkt dadurch weiter nach oben zu treiben und die Inflation in den westlichen Staaten anzuheizen, sagt Russland-Experte Mangott. "Davon verspricht sich die russische Führung eine Ermattung der westlichen Bevölkerung und Druck auf deren Regierungen, die Unterstützung der Ukraine aufzugeben."

Die Lebensmittelversorgung in Deutschland ist nicht gefährdet. Bei der Produktion von Nahrungsmitteln ist die EU weitgehend autark, wie die Europäische Kommission mehrfach betonte.

Wesentlich stärker von Inflation und Nahrungsmittelknappheit betroffen sind jedoch viele arme Staaten in der Welt. "Krisen in diesen Regionen sind für Russland interessant, könnten sie doch den Flüchtlingsdruck auf die EU deutlich steigern", sagt Mangott.

"Russland plant, Asiaten und Afrikaner auszuhungern, um seinen Krieg in Europa zu gewinnen", twittert der US-Historiker Timothy Snyder. "Dies ist eine neue Stufe des Kolonialismus und das neueste Kapitel der Hungerpolitik."

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Putin selbst weist die Verantwortung von sich. Russland sei bereit, den Getreideexport zu erhöhen, wenn im Gegenzug die Sanktionen der westlichen Staaten aufgehoben würden, sagte er mehrfach. Denn diese seien schuld an der eingeschränkten Exportfähigkeit seines Landes. Lebensmittelexporte aus Russland sind von den Sanktionen jedoch ausdrücklich ausgenommen.

Der senegalesische Präsident und derzeitige Vorsitzende der Afrikanischen Union, Macky Sall, äußerte Verständnis für die Position Moskaus. Er machte die westlichen Sanktionen für den Getreidemangel und die hohen Preise verantwortlich.

Einige afrikanische Staaten enthielten sich auch bei der UN-Resolution zur Verurteilung des russischen Angriffs. Zu groß ist die wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland, insbesondere was Getreidelieferungen angeht.

Warum wirkt sich der Krieg so stark auf die Welternährung aus?

Russland und die Ukraine gelten als Kornkammern der Welt. Die Bedingungen dort sind günstig für den großflächigen Anbau von Getreide. Die beiden Länder liefern rund ein Drittel der weltweiten Exportmenge.

Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) bezieht 50 Prozent des Getreides, das an die ärmsten Regionen der Welt verteilt wird, aus der Ukraine. Mit dem Getreide, das dort angebaut wird, könnten laut WFP 400 Millionen Menschen ernährt werden.

Durch den Krieg kam der Export beider Länder praktisch zum Erliegen. Auch nach drei Monaten wird nur ein Bruchteil der üblichen Menge ausgeführt. Dadurch fehlen nicht nur viele Millionen Tonnen Getreide, auch hat sich der Weltmarktpreis drastisch erhöht.

Zumal sich die Produktionskosten vervielfacht haben. Grund dafür sind die gestiegenen Energie- und Düngemittelpreise. Auch beim Dünger zählen die Ukraine und vor allem Russland zu den wichtigsten Produktionsländern.

Warum ist es so schwer, das Getreide aus der Ukraine zu holen?

Wie erwähnt, lagern derzeit Schätzungen zufolge rund 20 Millionen Tonnen Getreide in der Ukraine. Dabei ist fast die gesamte Export-Infrastruktur für Agrargüter auf den Seeweg ausgelegt. Mehr als 90 Prozent der Getreidelieferung gingen vor aus Ausbruch Krieges über die großen Schwarzmeer-Häfen aus dem Land.

Landwirt Serhiy gestikuliert in der Nähe eines Berges mit Getreide in seiner Scheune in der Region Donezk

Rund 20 Millionen Tonnen Getreide lagern in der Ukraine.

Doch Russland hat große Teile der Hafen-Infrastruktur zerstört und blockiert den Seeweg durch den Bosporus. Die Ukraine wiederum hat die Häfen aus Angst vor weiteren russischen Angriffen vermint. Eine Lösung ist nicht in Sicht.

Zu wenig Fahrzeuge, zu wenig Fahrer, zu wenig Grenzbeamte und kilometerlange Staus an den Grenzübergängen, zumal strenge Kontrollen bei Lebensmittel-Einfuhren in die EU gelten – das sind nur einige der Herausforderungen, würde man den Transport auf die Straße verlagern. Hauptproblem beim Schienentransport: unterschiedliche Spurweiten in der Ukraine und Westeuropa.

Vor allem aber scheuen viele Händler das Risiko. Weizentransporte quer durch die Ukraine seien derzeit schwer zu versichern und deshalb extrem teuer, sagt Dmytro Los, Vorsitzender des ukrainischen Handelsverbands.

Die Ausfuhr des Getreides per Lkw und auf der Schiene lohnt sich nicht, trotz der hohen Nachfrage auf dem Weltmarkt. Deutlich wird das an der polnisch-ukrainischen Grenze, über die derzeit kaum Weizen transportiert wird.

Wie könnte das Export-Problem gelöst werden, wenn die Ukraine und Russland sich doch nicht einigen?

Die EU hat einen Aktionsplan ins Leben gerufen, um den Export auf alternativen Transportwegen zu unterstützen. Sogenannte Solidaritätskorridore könnten helfen, das Getreide über die EU und ihre Häfen auf den Weltmarkt zu bringen. Im Juni etwa wurden bereits etwas über zwei Millionen Tonnen Getreide aus dem Land geschafft, überwiegend über Rumänien und die Donau.

Außerdem sollen die Kapazitäten an den Grenzen weiter ausgebaut und die Übergänge vereinfacht werden. Zollbeschränkungen für Agrargüter wurden bereits weitestgehend aufgehoben. Geprüft wird außerdem, ob die EU für Versicherungen aufkommen oder sogar als Ankäufer für Getreide einspringen kann. Relevante Mengen über alternative Wege aus dem Land zu schaffen, scheint dennoch unmöglich.

Die größten Hoffnung ruhen deshalb auf den Verhandlungen in der Türkei. Doch selbst wenn es kommende Woche zu einer Einigung kommt, wird die ursprüngliche Exportmenge so schnell nicht wieder erreicht werden.

Derweil hat in der Ukraine bereits die neue Erntesaison begonnen. Zwar gehen Prognosen von erheblichen Ertragseinbußen infolge des Krieges aus. Dennoch rechnet die Ukraine mit rund 50 Millionen Tonnen Getreide und mit etwa 15 Prozent, für die es dann an Lagerkapazitäten fehlt.

Temporäre Silos sollen Abhilfe schaffen, doch die müssen erst einmal ins Land gebracht werden. Andernfalls verdirbt das Getreide auf den Feldern oder es wird zu Tierfutter. Doch dabei verdienen die ukrainischen Landwirte kein Geld. Und die Lebensmittel fehlen weiterhin auf dem Weltmarkt.

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