Suizid muss nicht der letzte Ausweg sein

Aktuelle Stunde 02.05.2024 12:52 Min. UT Verfügbar bis 02.05.2026 WDR Von Alexander Klein

10.000 Suizide jährlich: Wie Lauterbach die Zahl senken will

Stand: 02.05.2024, 18:12 Uhr

Jedes Jahr nehmen sich mehr als 10.000 Menschen in Deutschland das Leben. Zu viel, sagt Bundesgesundheitsminister Lauterbach und hat am Donnerstag die erste nationale Suizidpräventionsstrategie vorgestellt.

Alix Puhl hat ihren Sohn im Corona-Sommer 2020 verloren. Emil ist 16 Jahre jung und sehr schlau, als er nach Japan reist. Er macht dort ein Auslandsjahr, lernt dafür sogar Japanisch. Dann, Ende Januar 2020, ein Anruf der Schule bei Alix Puhl. Emil gehe es nicht gut, er sei depressiv und suizidal.

Alix Puhl und ihr Mann Oliver reagieren sofort und holen Emil heim. Er macht eine Therapie - ohne Erfolg. Eines Tages sagt er zu seinen Eltern: "Ich will mir das Leben nehmen." Emil nennt sogar Ort und Zeit. Seine Eltern bringen ihn direkt auf eine Akutstation der Uniklinik Frankfurt.

Alix Puhl im Gespräch für einen Fernsehbeitrag.

Alix Puhl

Nach fünf Wochen wird Emil entlassen - offiziell als geheilt, erinnert sich Alix Puhl. Zuhause scheint es ihm besser zu gehen: "Er machte Zukunftspläne und wir waren alle sehr erleichtert." Was wirklich in Emil vorgeht, weiß sie nicht. Wie tief seine Verzweiflung ist. Bis er sich von zuhause verabschiedet - und verschwindet.

Eine Woche sucht die Familie, erfährt viel Hilfe und Solidarität von der Bevölkerung. Doch dann die Nachricht: Die Polizei hat ihn gefunden. Emil ist tot. Er hat Suizid begangen.

Strategie gegen Suizid

Sich selbst das Leben zu nehmen, ist jedes Jahr in Deutschland für mehr als 10.000 Menschen offenbar der letzte Ausweg. Dagegen will Bundesgesundheitsminister Lauterbach etwas tun: Er hat am Donnerstag die erste nationale Suizid-Präventionsstrategie vorgestellt. Das Thema müsse "aus der Tabuzone" herausgeholt werden, sagte der SPD-Politiker. Einer seiner wichtigsten Punkte: Mehr darüber reden.

Was plant die Bundesregierung?

Karl Lauterbach (SPD), Bundesminister für Gesundheit, auf einer Pressekonferenz der Bundesregierung.

Karl Lauterbach (SPD) stellt seine Ideen zur Suizidprävention vor.

Um Betroffene zu erreichen und das Thema Suizid zu enttabuisieren, kündigt Lauterbach unter anderem eine Aufklärungskampagne und eine zentrale Krisendienst-Notrufnummer an, die gemeinsam mit den Ländern eingerichtet werden soll. Denkbar ist die 113. Darüber hinaus sollen Fachkräfte im Gesundheitswesen für das Thema mit speziellen Schulungen sensibilisiert werden.

Alle Beratungs- und Kooperationsangebote sollen von einer bundesweiten Stelle koordiniert werden. Die Präventionsangebote sollen sich vor allem auf die Hochrisikogruppen ausrichten, sagte Lauterbach. Dazu gehören etwa ältere Männer, die schon vorher psychische Probleme hatten. Diese Gruppe erreiche man beispielsweise in Krankenhäusern oder Seniorenheimen.

Auch Menschen, die bereits einmal einen Suizidversuch unternommen haben, seien gefährdet. Für diese Menschen brauche es "eine systematische Betreuung", sagt Lauterbach.

Neben Präventions- und Informationsangeboten kündigte Lauterbach praktische Maßnahmen an: Dazu gehören kleinere Schmerzmittel-Packungen oder Schutzvorrichtungen wie hohe Zäune an leicht zugänglichen Brücken, Hochhäusern oder Bahnübergängen. Dafür sollen mithilfe eines pseudonymisierten Suizidregisters Orte festgestellt werden, an denen Menschen besonders häufig Suizid begehen oder es versuchen.

Wie viele Suizide gibt es jedes Jahr?

2022 haben sich in Deutschland 10.119 Menschen selbst getötet; damit ist die Zahl erstmals seit mehreren Jahren wieder auf über 10.000 gestiegen. Das bedeutet, dass sich alle 56 Minuten ein Mensch das Leben nimmt, fast 30 pro Tag. Das sind mehr Tote als durch Verkehrsunfälle, Gewalttaten und illegale Drogen zusammen.

Und: In allen Altersgruppen sind es deutlich mehr Männer als Frauen. Regional gibt es jedoch Unterschiede: So registriert Nordrhein-Westfalen mit acht Suiziden pro 100.000 Personen die wenigsten Selbsttötungen. Die höchste Suizidrate entfällt auf Sachsen mit 17,2 Gestorbenen je 100.000 Personen.

Über mehrere Jahrzehnte hinweg haben sich die Suizidzahlen allerdings deutlich verringert. Die Höchstzahl in Deutschland lag 1981 bei 18.825.

Was sind die häufigsten Ursachen/Risikofaktoren?

Emil litt an den Symptomen des Asperger-Syndroms und einer dadurch stark verschärften Depression.

Nach Einschätzung der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention gibt es nicht den einen, sondern immer mehrere Risikofaktoren:

  • Stark belastende Lebensereignisse (z.B. Trennungen, Umzüge, Jobverlust, aber auch Flucht)
  • Psychische Erkrankungen (z.B. Depressionen, Suchterkrankungen, Schizophrenien u.a.)
  • Körperliche Erkrankungen (besonders mit chronischen Schmerzen)
  • Suizide in der Familiengeschichte
  • Frühere Suizidversuche
  • Wenige oder keine sozialen Kontakte
  • Höheres Lebensalter
  • Männliches Geschlecht

Was sind typische Warnsignale?

  • Veränderungen des Äußeren (z.B. dunkle Kleidung)
  • Sozialer Rückzug
  • Änderungen von wichtigen Gewohnheiten, Vernachlässigung von Ernährung und Körperpflege
  • Direktes oder indirektes Ansprechen von Suizidgedanken
  • Krisenhafte Zustände (z.B. Lebensereignisse) mit Auswirkungen auf Stimmung, Schlaf, Verhalten
  • Risikoreiches Verhalten
  • Verabschiedungen/Verschenken, Testament

Wie stark sind Kinder und Jugendliche betroffen?

Vergleichsweise wenig. Hauptrisikogruppe für Suizide sind ältere Männer, insgesamt geht es bei gut 73 Prozent aller Suizide um die Altersgruppe ab 50 Jahren.

Für Alix Puhl ist jeder Fall einer zu viel. 90 Prozent der Kinder und Jugendlichen, die Suizid begehen oder diese Gedanken haben, seien psychisch erkrankt, sagt Alix Puhl: "Und 50 bis 70 Prozent dieser Erkrankungen beginnen im Schulalter."

Sie hat nach der Selbsttötung ihres Sohnes Emil zusammen mit ihrem Mann Oliver ein gemeinnütziges Unternehmen, ein Startup, gegründet. "Tomoni" schult und berät Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler, aber auch Eltern und betroffene Kinder und Jugendliche, um psychische Erkrankungen zu erkennen und damit umgehen zu können.

Ihr wichtigster Rat für Lehrerinnen, Lehrer und Eltern: "Nehmen Sie sich Zeit für das Kind. Und nehmen sie es ernst, wenn Sie was hören, wenn Sie was bemerken oder wenn auch ihr Bauchgefühl sagt, hier stimmt irgendwas nicht."

Was können Angehörige tun, wenn jemand Suizidgedanken hat?

Am besten ist als erstes immer: Reden. Die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention hat dafür einen Leitfaden zusammengestellt, der dabei helfen soll, die richtigen Worte zu finden:

Wo bekomme ich schnelle Hilfe?

Wer etwa an einer Depression leidet, sollte sich in jedem Fall professionelle Hilfe suchen. Der erste Ansprechpartner ist der Hausarzt, der Betroffene an einen Psychotherapeuten oder Psychiater überweisen kann. Wer unsicher ist, kann sich an das Info-Telefon Depression wenden (0800-3344533) oder an die Telefonseelsorge (0800-1110111, 0800-1110222 oder 116123, auch per Chat oder Mail).

Haben Sie Suizidgedanken? Hier gibt es Hilfe

Wer Suizidgedanken hat, dreht sich dabei innerlich meist im Kreis. Dadurch wirkt die Situation festgefahren, der Teufelskreis lässt sich aber durchbrechen. Anonyme und kostenlose Hilfe finden Betroffene zum Beispiel bei der Telefonseelsorge unter den Rufnummern 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222 sowie 116 123. Per Chat bietet die Telefonseelsorge auf dieser Webseite Unterstützung. Die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention listet hier Beratungsstellen für persönliche Gespräche auf.

Wenn jemand einen konkreten Suizid-Plan hat und bereit ist, diesen in den nächsten Minuten oder Stunden durchzuführen: Rufen Sie sofort die 110 oder 112 an.

Über dieses Thema berichten wir auch am 02.05.24 in der "Aktuellen Stunde" und am 03.05.24 im WDR 5 Morgenecho.

Quellen:

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