Lorenz Beckhardt spricht in der Aula des Bonner Betehoven-Gymnasiums vor Oberstufenschülern über den 8. November 1938 und 2023.

Reichspogromnacht 1938: "Heute würdet ihr sagen, die Bilder gingen viral"

Stand: 10.11.2023, 02:37 Uhr

Am 10. November 1938 schickte der Schulwärter die Kinder nach Hause. "Die Schule fällt aus. Die Synagoge brennt" - ein Schock für den elfjährigen jüdischen Jungen Kurt Beckhardt. Gestern erinnerte sein Sohn Lorenz am Bonner Beethoven-Gymnasium an die Geschichte - und Judenhass, damals und heute.

Von Sabine Schmitt

Lorenz Beckhardt liest den Schülerinnen und Schülern einen Auszug aus seinem Buch vor. Es geht um seinen Vater Kurt, einen damals elfjährigen jüdischen Jungen - und seine Erinnerungen an die Reichspogromnacht 1938.

In Gedanken sieht Lorenz Beckhardt seinen Vater Kurt, wie er in kurzen Hosen die Straße hinaufschleicht. Kurt, der sich an Häuserwänden entlang drückt. Kurt, der hinter einer dichtgedrängten Menge steht. Erwachsene versperren ihm die Sicht. Dann sieht er, was sein kindlicher Verstand nicht begreifen kann: Jemand hat seine Synagoge angesteckt. Lorenz Beckhardt stellt sich die Verzweiflung dieses Jungen vor beim Anblick der rußgeschwärzten Mauern. Wie dem damals kleinen Kurt die Tränen über die Wangen laufen. Damals. Im November 1938 war sein Vater 11 Jahre alt.

Zwei Stunden lang, harte Holzstühle - viele Fragen

Ernste Gesichter - Schüler bei der bei der Veranstaltung zur Reichspogromnacht am Bonner Beethoven-Gymnasium

Lorenz Beckhardt hat diese Geschichte so auch aufgeschrieben. Er liest daraus vor. In der Aula des Bonner Beethoven-Gymnasiums. Es ist der Abend des 9. Novembers 2023. Etwa 180 Schüler der Q1 und Q2 sind gekommen. Sie sitzen still auf harten Holzstühlen. Zwei Stunden lang. Sie hören zu, stellen Fragen. Die Gesichter sind ernst.

Es geht um ein geschichtlich bedeutsames Datum. Der 9. November 1938 und die folgende Nacht stehen für den Beginn der systematischen Juden-Ermordung durch die Nazis. Es ist der Tag, an dem organisierte Schlägertrupps, jüdische Geschäfte, Synagogen und jüdische Einrichtungen in Brand setzten. Tausende Jüdinnen und Juden in Deutschland werden misshandelt, verhaftet oder getötet. "Am Tag danach druckten Tageszeitungen auf der ganzen Welt diese Bilder", sagt Lorenz Beckhardt, der selbst Journalist ist und auch für den WDR arbeitet. "Heute würdet ihr sagen, die Bilder gingen viral", sagt er zu den Schülerinnen und Schülern.

2023 gehen wieder Bilder viral

2023 - 85 Jahre später - gehen wieder grausame Bilder um die Welt. Wieder ist jüdisches Leben bedroht: Hamas-Mitglieder verübten am 7. Oktober 2023 einen Terroranschlag auf Israel. Nach israelischen Militärangaben töteten sie dabei mehr als 1.400 Israelis und entführten mehr als 220 Geiseln in den Gazastreifen - darunter viele Kinder. Seitdem kämpft Israel im Gazastreifen gegen die Hamas, dabei sterben im Gazastreifen viele unschuldige Zivilisten. Auch diese Bilder gehen viral. Viele Menschen gehen deshalb gegen Israel auf die Straße. Auch in Deutschland.

Die Schülerinnen und Schüler haben viele Fragen an Lorenz Beckhardt. Sie wollen zum Beispiel wissen, wie er aktuell die Situation der Juden in Deutschland sieht - und ob sich sein Bild von Deutschland über die Jahre verändert hat.

Auch darum geht es im Gespräch zwischen Lorenz Beckhardt und den Schülerinnen und Schülern. Eine Schülerin meldet sich. Was Lorenz Beckhardt darüber denke, dass Leute das Sterben der Menschen im Gazastreifen mit dem Holocaust gleichsetzten - der Holocaust (auch der Begriff Shoah) steht dafür, dass Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg systematisch etwa 6 Millionen Juden ermordeten. Beckhardt sagt, der Vergleich sei falsch. Er sei antisemitisch. "Das Sterben der Zivilisten im Gazastreifen würde sofort aufhören, wenn sich die Hamas ergeben würde."

Erst Pilot im Ersten Weltkrieg - dann Häftling im KZ Buchenwald

Das Buch "Der Jude mit dem Hakenkreuz" erzählt die Geschichte von Fritz Beckardt - einem Juden, der als Pilot im ersten Weltkrieg kämpfte und später ins KZ kam.

Es ist ein Abend, an dem sich Geschichte und Gegenwart ständig vermischen. Lorenz Beckhardt erzählt von seinem Opa Fritz Beckhardt, einem Juden, der im ersten Weltkrieg für Deutschland in den Krieg zog, "weil er Patriot war". Er war Pilot und in der Fliegerstaffel - nach ihm ist auch Lorenz Beckhardts Buch über die Familiengeschichte benannt: "Der Jude mit dem Hakenkreuz".

Ein Foto zeigt Fritz in seinem Flugzeug. Auf der Maschine prangt ein Hakenkreuz - das Symbol, das erst später zum offiziellen Zeichen des Nationalsozialismus' wurde. Der erste Weltkrieg endete 1918. Jagdflieger Fritz kehrte hochdekoriert zurück. Trotzdem kam er ins Gefängnis. Wegen Rassenschande. Er hatte neben der Familie eine Liebesbeziehung mit einer Christin und ein weiteres uneheliches Kind mit ihr. Das war Juden verboten. Eine Nachbarin denunzierte ihn 1937.

Lorenz Beckhardt liest den Schülerinnen und Schülern einen Auszug aus seinem Buch vor. Es geht um seinen Vater Kurt, einen damals elfjährigen jüdischen Jungen - und seine Erinnerungen an die Reichspogromnacht 1938.

Später kam er ins KZ Buchenwald. Doch er hatte Glück. Im März 1940 kam er frei -offiziell mit Verweis auf seine Dienste im Ersten Weltkrieg. Möglicherweise aber auch, weil sein ehemaliger Fliegerkamerad Hermann Göring sich hinter den Kulissen dafür eingesetzt hatte, sagt Lorenz Beckhardt zu den Schülern. Göring war inzwischen ein wichtiger Mann bei der NSDAP geworden - er war erst Oberbefehlshaber der Luftwaffe und seit 1936/37 Reichswirtschaftsminister. Er war es auch, der später die Organisation des Völkermordes an den europäischen Juden beauftragte.

Als Fritz aus dem KZ freikommt, sind seine Kinder - Kurt, der Vater von Lorenz und dessen achtjähriger Schwester Hilde - schon in England. Sie hatten Deutschland 1939 mit einem Kindertransport verlassen. "Könnt ihr euch das vorstellen", fragt Lorenz Beckhardt die Schülerinnen und Schüler. "Dass eure Eltern euch wegschicken? Alleine? Als unbegleitete Flüchtlinge? In ein fremdes Land? Im Wissen, dass sie euch möglicherweise nie wieder sehen?" Die Schüler schweigen.

"Sie wollten wenigstens die Kinder retten"

Lorenz Beckhardt redet weiter. "Natürlich ist das meiner Oma und meinem Opa sehr schwer gefallen. Aber sie hatten keine Wahl. Sie wollten wenigstens die Kinder retten." Einige Jahre später gab es ein glückliches Wiedersehen in England. Vorher schrieben die Eltern den Kindern: "Wir kommen."

Lorenz Beckhardt erzählt: "Als mein Vater im Kinderheim vom Brief der Eltern erzählt und jubelt, freute sich keiner mit ihm." Zu groß sei der Schmerz gewesen der anderen jüdischen Kinder im Heim. "Alle vermissten ihre Eltern - kaum einer sah seinen Vater oder seine Mutter je wieder."

Die Familie Beckhardt lebte gemeinsam für einige Jahre in England. Nach dem Krieg entschied der Vater: "Wir gehen zurück nach Deutschland." Nur Hilde blieb in England.

Die Familie zog vor Gericht und erkämpfte sich ihr besetztes Haus zurück. Auch der Laden der Familie eröffnete wieder. "Der Boykott aber, der 1933 startete, hielt an - bis in die 1970er Jahre", sagt Lorenz Beckhardt. Viele Menschen hätten das Geschäft weiterhin gemieden.

Kurt, der Vater von Lorenz Beckhardt, entschied sich, seine Kinder katholisch taufen zu lassen. Lorenz Beckhardt erfuhr erst als 17 oder 18 Jähriger, dass er aus einer jüdischen Familie stammt. Damals war er selbst Schüler am Bonner Beethoven-Gymnasium. Unweit der Schule befindet sich auch eine Synagoge.

2023 in Deutschland: Juden haben Angst, als Juden erkannt zu werden

Lorenz Beckhardt ist heute Mitglied einer jüdischen Gemeinde - als religiös bezeichnet er sich aber nicht. Ob er sich heute bedroht fühle als Jude in Deutschland? Lorenz Beckhardt erzählt, dass sich Juden derzeit in Deutschland nicht öffentlich zu erkennen geben. Zu groß sei die Angst. Manche Eltern hätten Angst, ihre Kinder zur jüdischen Schule zu schicken - aus Sorge vor Anschlägen.

"Heute morgen war ich ziemlich trübselig"

"Heute morgen", sagt Lorenz Beckhardt, "war ich ziemlich trübselig. Aber jetzt, wo ich den Abend mit euch verbracht habe und eure Perspektiven gehört habe, bin ich optimistischer."

"Geschichtliche Verantwortung kann keine hohle Phrase im Geschichtsunterricht sein" - Geschichtslehrerin Frieda Schaaf hat die Veranstaltung organisiert.

Am Beethoven-Gymnasium wird es auch im November 2024 wieder eine Veranstaltung zur Reichspogromnacht geben. Lehrerin Frieda Schaaf plant sie jetzt schon. Sie unterrichtet Geschichte und Religion. Erinnerungskultur ist ihr wichtig, ist der Schule wichtig.

"Geschichtliche Verantwortung kann keine hohle Phrase im Geschichtsunterricht sein. Sie muss im Alltag gelebt werden, sonst hat sie letztlich keine Relevanz", sagt Frieda Schaaf. Am 9. November 1938 sei die Gewalt gegen deutsche jüdischen Glaubens auf offener Straße frei ausgelebt worden. "Kaum ein Bürger hat sich dem grausamen Treiben entgegengestellt." Man müsse für diese Verantwortung sensibilisieren. "Sonst haben wir keine Chance, eine solche Eskalation für die Zukunft zu verhindern. Traurigerweise muss man sagen, dass zuletzt Anfänge dieser Gewalt wieder zu sehen waren."

Anmerkung: Der Nah-Ost-Konflikt ist ein sensibles Thema. Auf Wunsch der Schule verzichten wir in dieser Reportage auf die Namen der Schülerinnen und Schüler, die sich bei der Schulveranstaltung zur Reichspogromnacht zu Wort gemeldet haben.

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