Jürgen Becker gestorben
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Chronist des Alltäglichen: Zum Tod des Schriftstellers Jürgen Becker
Stand: 10.11.2024, 14:29 Uhr
Er war ein Erforscher unserer Bewusstseinslandschaften und hat ein vielgestaltiges Werk geschaffen: Gedichte, Romane, Erzählungen und Hörspiele. Jetzt ist Jürgen Becker im Alter von 92 Jahren gestorben.
Dieser Satz aus seinem Prosaband "Im Radio das Meer" aus dem Jahr 2009 könnte über dem gesamten literarischen Schaffen Jürgen Beckers stehen: "Wenn eine Geschichte anfing, wusste er nie so recht, wo sie hinführen sollte."
Der stetigen Suche nach neuen Ausdrucksformen galt sein Schreiben. Mit jedem neuen Buch habe er versucht, sich als Schriftsteller neu zu definieren, sagte er einmal in einem Interview.
Beginn als radikaler Experimentierer
Die literarische Bühne hat Jürgen Becker 1960 auf einer Tagung der Schriftstellervereinigung Gruppe 47 betreten - als radikaler Experimentierer, was ihn auf einen Schlag bekannt machte. Dabei gehörte er nie zu den lauten Vertretern seiner Zunft, sondern war immer ein Autor, der leise Töne anschlug.
Becker mit Kölns Oberbürgermeisterin Reker beim Empfangs zu seinem 85. Geburtstag 2017
Mit seinen frühen Prosa-Bänden "Felder", "Ränder" und "Umgebungen" schrieb er sich in die Literatur der Moderne ein. Und ab den 1960er Jahren war er auch immer im Hörfunk präsent: Als Essayist und Hörspielautor - und 20 Jahre lang, von 1974 bis 1994, als Leiter der Hörspielredaktion des Deutschlandfunks. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Heinrich-Böll-Preis, dem Uwe-Johnson-Preis, dem Schiller-Ring und dem Georg-Büchner-Preis.
Die rheinische Tiefebene und das Bergische Land
Am 10. Juli 1932 wurde Jürgen Becker in Köln geboren, in Thüringen ist er aufgewachsen und 1950 nach Köln zurückgekehrt. Hier und in einem abgelegenen Fachwerkhaus bei Odenthal im Bergischen Land hat er bis zuletzt gelebt und gearbeitet.
Die rheinische Tiefebene und das Bergische Land sind wichtige Motive in Beckers Werk. Aber nicht die schwelgerische Naturbetrachtung hat ihn interessiert, sondern die von Menschen gestaltete Umwelt, in die auch die politische Geschichte ihre Spuren eingegraben hat.
Jürgen Becker gehörte der Generation an, die den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg als Kind zwar, aber doch bewusst miterlebt hat. Naives Erzählen fand er immer fragwürdig, weil er erfahren hatte, wie Sprache missbraucht werden kann. So war sein Schreiben von Anfang an von Sprachskepsis durchdrungen.
Autobiografisches Schreiben geprägt von Zeitgeschichte
Sein erstes Buch mit dem Titel "Felder" erschien 1964 und machte ihn auf einen Schlag bekannt. Die bundesdeutsche Literaturszene war ratlos: Was war das? Lyrik? Prosa? Der junge Autor wollte damals bewusst die Grenzen der literarischen Gattungen sprengen. Doch in seinen späteren Büchern hat er sich ihnen wieder angenähert.
Dabei hat Jürgen Becker eine ganz eigene Form des autobiografischen Schreibens entwickelt. Wie ein Archäologe erforschte er in seinem Werk innere Bewusstseinslandschaften, die geprägt sind von Zeitgeschichte. Seine Gedichte, Erzählungen und Romane erscheinen wie vielstimmige Selbstgespräche.
Becker 2013 in der Akademie der Künste Berlin bei der Veranstaltung 65 Jahre „Sinn und Form“
Kein Augenblick ist zu banal
Vor allem nach 1990 unter dem Eindruck des Mauerfalls rückte die eigene Lebensgeschichte ins Zentrum von Jürgen Beckers Schreiben: Er näherte sich seiner Kindheit in Ostdeutschland, den Kriegserfahrungen, dem traumatischen Suizid der Mutter, der Übersiedlung in den Westen, der Wirtschaftswunderzeit und dem Kalten Krieg.
Das Erinnern war bei Jürgen Becker jedoch immer an gegenwärtiges Erleben gebunden, immer bewegte er sich schreibend im Hier und Jetzt. Nicht umsonst ist "Journal" ein zentraler Begriff in seinem Werk. "Journalroman", "Journalgeschichten", "Journalsätze" lauten Untertitel seiner Bücher.
Kein Augenblick ist zu banal, dass er nicht einen Schreibimpuls auslösen könnte: das Klappern einer Tasse, ein Blick aus dem Fenster, der Nachbar, der das Garagentor schließt, die vorbeiziehende Landschaft während einer Autofahrt. Durch die assoziative, offene Schreibweise treten hier exemplarisch kollektive Erfahrungen zutage, die unsere Gesellschaft bis heute prägen. Dafür hat Becker Sprachbilder geschaffen, die bleiben.
Über dieses Thema berichteten wir am 10.11.2024 im WDR Fernsehen: WDR aktuell, 16 Uhr.