Evangelische Kirche: Was wusste Kurschus über Missbrauchsvorwürfe in Siegen?
Aktuelle Stunde. 17.11.2023. Verfügbar bis 17.11.2025. WDR.
Was wusste EKD-Chefin Kurschus über Missbrauchsvorwürfe in Siegen?
Stand: 19.11.2023, 18:00 Uhr
EKD-Chefin Annette Kurschus ist unter extremen Druck geraten. Auslöser sind Missbrauchsvorwürfe gegen einen ehemaligen Kirchenmitarbeiter in Siegen. Zu einer Zeit, als sie dort als Pfarrerin tätig war. Am Montag will sie sich dazu äußern.
Von Christina Zühlke und Fritz Sprengart
Was wusste Annette Kurschus wirklich? Diese Frage beschäftigt zur Zeit die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD). Denn Kurschus steht an der Spitze dieser Kirche. Und sie ist zugleich auch die Präses, die Chefin, der evangelischen Kirche von Westfalen.
Ein Kirchenmitarbeiter aus Siegen soll vor vielen Jahren junge Männer zu sexuellen Handlungen gedrängt haben. Die "Siegener Zeitung" berichtete in den vergangenen Tagen. Und die Zeitung schrieb auch, dass Kurschus schon seit Ende der 90er-Jahre von Vorwürfen wisse. Sie war damals zunächst Pfarrerin, später Superintendentin in Siegen.
Schüler-Lehrer-Verhältnis - und Machtmissbrauch?
In einem Gespräch in Kurschus' Garten sollen ein Betroffener und drei weitere Personen der damaligen Pfarrerin von "sexuellen Verfehlungen" des Mitarbeiters berichtet haben. Kurschus dagegen beteuerte diese Woche in einem Statement, ihr gegenüber habe es keine Hinweise auf sexualisierte Gewalt in dieser Zeit gegeben. In Gesprächen vor vielen Jahren sei lediglich die sexuelle Orientierung des Beschuldigten thematisiert worden.
Tim Plachner ist Redakteur der Siegener Zeitung. Im WDR-Interview sagt er, er habe mit mehreren Betroffenen gesprochen, die von sexuellen Handlungen erzählt hätten. In Kurschus’ Garten sei es damals explizit um sexuelle Verfehlungen gegangen: "Es ist auch die Rede von einem Schüler-Lehrer-Verhältnis, so dass man von einem Machtmissbrauch ausgehen kann." Für diese Aussagen liegen der "Siegener Zeitung" nach eigenen Angaben eidesstattliche Versicherungen von zwei Teilnehmern des Gartengesprächs vor.
EKD-Chefin Kurschus will sich am Montag äußern
EKD-Chefin Annette Kurschus
Doch Annette Kurschus bleibt dabei: Sie habe von den Vorwürfen nichts gewusst. Die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche kündigte an, sich am Montag in einer persönliche Erklärung zu den Recherchen der "Siegener Zeitung" zu äußern. Kritisiert wird sie allerdings auch für Aussagen dazu, wie nahe sie dem Beschuldigten steht. Auf einer Pressekonferenz in Ulm sagte sie am vergangenen Sonntag auf die Frage, ob sie den Beschuldigten kenne: Ja - und dass in Siegen jeder jeden kenne.
"Entsetzt und wütend"
Am Dienstag, nur zwei Tage später, räumte sie dann vor einer Versammlung der EKD in Ulm ein, dass sie ein sehr enges Verhältnis zum Beschuldigten habe: "Ich bin entsetzt und wütend, aktuell so furchtbare Schilderungen über eine Person zu erfahren, von der ich bislang nur ein anderes Gesicht wahrgenommen hatte." Dass sie Patentante eines der Kinder des mutmaßlichen Täters sei, dürfe sie aus rechtlichen Gründen nicht bestätigen, sagte sie auf die Frage einer Delegierten.
Der Anwalt des Beschuldigten erklärte auf WDR-Anfrage, dass er und sein Mandant angesichts der aktuellen Entwicklung und des laufenden Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft Siegen derzeit keinerlei Erklärungen zum Sachverhalt oder den Beteiligten abgeben möchten. Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Siegen sagte der Deutschen Presse-Agentur, dass nach bisherigem Ermittlungsstand unklar sei, ob strafrechtlich relevantes Verhalten vorliege.
Auch die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus, wollte die Causa Kurschus nicht konkret kommentieren. Sie kritisierte aber ganz grundsätzlich eine scheibchenweise Kommunikation bei Missbrauchsaufarbeitung. Im WDR sagte sie: "Alles, was dazu führt, dass ein Thema Tag für Tag noch eine weitere Dimension bekommt, ist schädlich, und es ist vor allem schwierig für Betroffene, die ein Recht darauf haben müssen, dass sachgerecht, schnell, transparent mit den Fragestellungen umgegangen wird."
Lückenlose Aufklärung gefordert
Kerstin Claus war selbst als Jugendliche jahrelang von einem evangelischen Pfarrer missbraucht worden. Sie kämpfte später vergeblich darum, dass die evangelische Kirche den Mann angemessen bestrafte und die Vorfälle aufklärte. Es sei schwierig, "wenn Betroffene dauernd in der Schwebe hängen und das Gefühl haben, da wird nicht gesehen, was wichtig ist, da wird nicht respektiert, was ich vorgebracht habe."
Die Betroffenen von sexualisierter Gewalt, die sich bei der evangelischen Kirche für einen besseren Umgang engagieren, gaben am Donnerstag ein eigenes Statement heraus. Darin heißt es: "Wir sind in höchstem Maße besorgt, dass die Darstellung der Ratsvorsitzenden der EKD in einer entscheidenden Frage von der anderer Personen abweicht. Die aktuelle Berichterstattung stellt die Glaubwürdigkeit von Frau Kurschus in Frage." Dies dürfe nicht zu einer Beschädigung der Anstrengungen, Projekte und Maßnahmen führen, die Betroffene in der evangelischen Kirche schon erreicht hätten. "Es braucht eine klare, lückenlose und unabhängige Aufklärung in diesem Fall."
"Persönlich Verantwortung übernehmen"
Detlev Zander engagiert sich in der evangelischen Kirche schon lange für Aufarbeitung. "Erstens finde ich, dass eine Entschuldigung fällig wäre, zweitens muss sie jetzt persönlich Verantwortung übernehmen", sagte der Betroffenenvertreter dem WDR. "Und wenn man die ganze Causa dann zusammen sieht, ist sie aus meiner Sicht nicht mehr tragbar."
Die höchste ehrenamtliche Vertreterin der Evangelischen Kirche in Deutschland, Präses Anna-Nicole Heinrich, sagte dem WDR, dass die Schilderungen der Betroffenen in Siegen sie tief berühren. "Ich gehe davon aus, dass alles daran gesetzt wird, die Betroffenen im Blick zu haben und den notwendigen Raum für die weitere Aufarbeitung des Falles und des Umgangs mit ihm zu gewährleisten. Die Landeskirche in Westfalen steht in der hohen Verantwortung, dieses sicher zu stellen."
Aus der Evangelischen Kirche von Westfalen gibt es unterdessen auch Rückendeckung für Kurschus. Ihre Kommunikation sei zwar unglücklich gewesen, die Rücktrittsforderungen aber unangemessen, schrieb ein Mitglied der Kirchenleitung in einem Gastbeitrag für den Kölner Stadtanzeiger.