Massenpanik in Seoul: WDR-Reporterin über die Nacht in Itaewon

Stand: 30.10.2022, 20:18 Uhr

In der südkoreanischen Hauptstadt Seoul sind in einem Gedränge bei Halloween-Feiern über 150 Menschen gestorben. Das Unglück passierte in einem beliebten Ausgehviertel. WDR-Reporterin Sun-Hie Kunert ist vor Ort und berichtet.

Von Sun-Hie Kunert

Seit zwei Wochen bin ich in Korea, um meine Familie zu besuchen und die Hochzeit meiner Cousine zu feiern.

WDR-Reporterin Sun-Hie Kunert in Seoul

WDR-Reporterin Sun-Hie Kunert in Seoul

Das war, wie solche Zusammenkünfte oft sind, schön, aber ziemlich ermüdend. Ich lag schon im Bett, als auf meinem Handy eine Katastrophenmeldung ankam. Schon wieder eine Warnung? Es kamen schon einige. Darin wurde vor einem Erdbeben in einer Stadt südlich von Seoul gewarnt. 

Die erste Meldung jetzt war kurz, sprach nur von einem Vorfall mit Verletzten in einer Menschenmenge in Itaewon, einem bekannten Stadtviertel von Seoul.

Dann kamen direkt genauere Informationen über den koreanischen Social-Media- und Kommunikationsriesen "Kakao"-Talk. Es ist von mehr als 100 Opfern die Rede – und davon, dass die Feuerwehr im Einsatz ist.

Erste Bilder zeigen dutzende bewegungslose Menschen

Vogelperspektive der Menschenmassen in Seoul

Vogelperspektive der Menschenmassen in Seoul

Kurz darauf kommen die ersten Videos über die Kakao-Talk-Chats. Sie zeigen Bilder, auf denen dutzende Menschen bewegungslos auf dem Boden nebeneinander liegen und ebenso viele Helfer, die versuchen sie wieder zu beleben. In der nächsten Nachricht bittet der Katastrophenschutz alle Menschen in Seoul, sich nach Hause zu begeben.

Der Ort der Katastrophe heißt Itaewon, ein Viertel von Seoul, in dem sich traditionell viele Ausländer aufhalten. Früher gingen dort vor allem amerikanische Soldaten aus, jetzt Menschen aus der ganzen Welt. Viele haben sich dort auch niedergelassen. Es ist sehr lebendig dort. Die Bars, Clubs und Partys gelten als berüchtigt.

Straßenszene in Seoul

Ein Party-Viertel unter Schock

Ich komme etwa drei Stunden nach Beginn der Katastrophe in der Gegend von Itaewon an. Auf dem Weg dorthin kommt mir ein nicht enden wollender Strom an Menschen in Kostümen entgegen. Die Prinzessinnen Cinderella und Belle laufen vor mir über die Kreuzung. Einige wirken müde und wollen nur irgendwie nach Hause kommen.  Andere sind gut gelaunt und auch sehr betrunken. Gleichzeitig rollen immer mehr Einsatzkräfte an. Alle 50 Meter stehen Polizisten, die die Massen anleiten. Jetzt hört und sieht man immer mehr vorbei rauschende Sirenen von Krankenwagen.

Partyviertel Itaewon warb mit Halloween-Parties

Unglück in Seoul bei Halloween-Festival

Unglück in Seoul bei Halloween-Festival

Diesen Samstag hatten die Bars und Clubs das erste Mal seit Corona wieder mit Halloween-Parties geworben - eine Tradition in dem Viertel. Es war in den Vorjahren auch immer wild und voll, doch dieses Jahr sollen etwa 100.000 Feiernde in dem kleinen Viertel zusammengekommen sein. In den Videos, die zeigen, wie ausgelassen die Stimmung vor der Katastrophe war, sieht man, wie unangenehm eng es werden würde.

Und dann in einer kleinen stark abschüssigen Gasse passierte es: Die Menschen, in der Mitte der Gasse, stürzen abwärts, Richtung Ausgang, und die Nachkommenden fallen über sie. Diejenigen, die von hinten nachrücken, üben weiter Druck auf die aus, die vorne bereits aufeinander liegen.

Aufnahme der gedrängten Menschenmassen.

Aufnahme der gedrängten Menschenmassen.

Die Menschen werden durch die schiere Masse so fest zusammengedrückt, dass sie keine Luft mehr bekommen und ihre Herzen stehen bleiben. Zum jetzigen Zeitpunkt sind es 151 Todesopfer und 82 Verletzte.

Halloween-Kürbisse auf dem Boden in Seoul

Halloween-Feierlichkeiten in Seoul enden in einer Tragödie

Kurz vor der Straßensperre an der Hauptstraße spreche ich mit Sia aus Schweden, die gerade versucht, ein Leihrad zu öffnen. Sie war in der Gasse kurz vor der Katastrophe. Sie zeigt mir ein Video und sagt “Die Doc Martens haben mich gerettet“. Sonst hätte sie sich nicht durch die Menschenmassen hindurch kämpfen können. sagt sie, „Wir haben eineinhalb Stunden bis hier raus gebraucht.” Sie sagt, es sei furchtbar gewesen. Die Wiederbelebungen liefen weiter, es wurden immer mehr Menschen auf Transportbahren vorbeigefahren, mit bedeckten Gesichtern. 

„Die Leute sind so lange zu Hause gewesen. Jetzt wollten sie alle raus und Party machen.“ Laden-Mitarbeiterin im Viertel Itaewon

Während ich auf die Straßensperre zulaufe, höre ich auf einmal laute Musik. Direkt neben der Einfahrt, wo immer weiter Rettungsfahrzeuge passieren, stehen feiernde Menschen vor einer Bar. Betrunken und fröhlich. Auf der freien Hauptstraße steht ein Spalier von Polizisten für die Krankenwagen. Auf dem Bürgersteigen sind aber immer noch Feiernde auf der Suche nach der nächsten Einkehr. Ich sehe zusehends mehr Verletzte, die unter Zelten oder auf Bahren versorgt werden. Alle sind bedeckt mit diesen silbernen Rettungsdecken. Dazwischen erkenne ich Leichen. Es ist ein Grauen. 

Massenpanik in Seoul

Viele können nur noch tot geborgen werden

Gleich gegenüber der Gasse, wo die Panik ausgebrochen ist, liegt ein Kebab-Laden. Ich spreche mit einem Mann, der gerade hinter der Theke Kebab-Spieße wegräumt. Er sagt: “Es ist das erste Jahr ohne Absperrungen und Einschränkungen in Itaewon zu Halloween. Es war ein Fehler, den Zugang zu den Gassen nicht zu kontrollieren. Weißt du, hier ist es eng! Da können nicht so viele Leute rein.” 

In den Sozialen Netzwerken wird davon gesprochen, dass es Beamte gab, die versuchten, Zugänge und Menschenströme zu lenken, aber wohl nicht genug. Und eben nicht in dieser Gasse.

Eine Frau, die nicht weit von dem Ort, wo die Katastrophe sich ereignete, in einem Laden arbeitet, sagt mir, es sei wegen Corona gewesen. „Die Leute sind so lange zu Hause gewesen. Jetzt wollten sie alle raus und Party machen.“

Massenpanik in Seoul

Einsatzkräfte nach der Massenpanik in Itaewon

Immer noch werden Bahren in Krankenwagen geladen. Die Türen werden geschlossen.


Über dieses Thema berichten wir im WDR am 30.10.2022 auch in den Hörfunknachrichten, bei 1Live um 6.37 Uhr und im Fernsehen: Aktuelle Stunde, 18.45 Uhr.

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