Wurden Menschen mit Behinderung bei der Impfung vergessen?

Stand: 10.01.2021, 19:28 Uhr

Die Lebensumstände von Menschen mit Behinderung in der Risikogruppe haben bei der Impf-Verordnung keine Rolle gespielt. Das Land NRW prüft auf Westpol-Nachfrage jetzt, ob Menschen mit Down-Syndrom vorrangig geimpft werden.

Von Anja Lordieck

Seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie lebt Elisa Siepmann in Angst, sich anzustecken. Die 28-Jährige hat eine spinale Muskelatrophie, eine Form von Muskelschwund. Sie sitzt im Rollstuhl und ihre Lungenfunktion liegt bei 20 Prozent. Eine Covid-19-Erkrankung kann für sie tödlich enden.

Dass sie sich ansteckt, ist nicht unwahrscheinlich: Acht Assistenten unterstützen sie, regelmäßig kommen Therapeuten und sie muss zur Arbeit. Trotzdem ist sie erst in der dritten Impfgruppe dran. Damit ist derzeit unklar, wann sie geimpft wird.

Gleiche Diagnose - anderes Risiko?

Würde Elisa Siepmann in einem Pflegeheim oder einer Eingliederungshilfe leben, wäre sie in der ersten oder zweiten Impfgruppe. Das kann sie nicht nachvollziehen: "Ich kann mich nicht zu Hause allein einigeln. Ich habe zwangsläufig Kontakt und ich habe keine Schutzmaßnahmen, Masken und Schutzkleidung, die mir kostenfrei zur Verfügung gestellt werden."

Wer ist verantwortlich für diese Reihenfolge? Die ständige Impfkommission, kurz STIKO, hat eine Empfehlung erarbeitet. Auf dieser Grundlage hat das Bundesgesundheitsministerium die Impfreihenfolge per Verordnung festgelegt.

Ohne Studien werden Diagnosen nicht bedacht

Man habe über die Lebensumstände der Risikogruppen diskutiert, räumt der Vorsitzende der STIKO Thomas Mertens ein. Für die finale Empfehlung seien jedoch ausschließlich wissenschaftliche Studien zur Sterblichkeit einzelner Gruppen durch Covid-19 ausgewertet worden. Die gebe es für Menschen mit Behinderung in der Risikogruppe, die zu Hause leben, nicht. Die Behindertenverbände sollen diese selbst liefern.

Die Impfpriorisierung werfe die Frage auf, welches Bild die Gesellschaft von Menschen mit Behinderung hat, so Inklusionsaktivist Raul Krauthausen. "Ich hätte mir gewünscht, dass die Politik endlich begreift, dass ein Großteil der Menschen, die zur Hochrisikogruppe gehören, nicht in Intensivpflegeeinrichtungen leben, sondern zu Hause und dass sie auch dort Schutz benötigen."

Menschen mit Down-Syndrom zehnmal höheres Sterberisiko

Menschen mit Trisomie 21 oder geistiger Behinderung werden in der zweiten Gruppe geimpft, egal, ob sie zu Hause leben oder in einer Eingliederungshilfe. Denn für ihr Sterberisiko gibt es mittlerweile Studien. Menschen mit Down-Syndrom sterben demnach mit einer zehnmal höheren Wahrscheinlichkeit an einer Covid-19-Erkrankung als der Durchschnitt.

Damit liegen sie zwischen den über 70- und über 80-Jährigen. Auch hier wurden die Lebensumstände nicht bedacht. Wie bei Lily Zilske, die Trisomie 21 hat und im Kindergarten arbeitet. Dort würden es nicht alle Kinder schaffen, Abstand zu halten, erklärt sie. "Manche wollen einfach meine Nähe."

Land NRW prüft nun vorrangige Impfung von Menschen mit Down-Syndrom

Kann das Land NRW die Lebensumstände der Risikogruppen in seine Impfreihenfolge noch einbeziehen? Auf Westpol-Nachfrage gibt das NRW Gesundheitsministerium an, die Impfverordnung sei bindend. Es wolle aber prüfen, ob Menschen mit Trisomie 21, geistiger Behinderung und Demenz innerhalb ihrer Impfgruppe vorrangig geimpft werden können.