Tödliche Polizeischüsse und die Frage nach der Verhältnismäßigkeit

Stand: 07.09.2022, 16:43 Uhr

Die tödlichen Schüsse aus einer Maschinenpistole der Polizei beschäftigten den Rechtsausschuss des Landtags. Noch immer ist unklar, ob das Vorgehen der Polizei verhältnismäßig war.

Von Christoph Ullrich und Nina Magoley

Auch, wenn es in der Debatte keine größeren Überraschungen gab: Immer mehr zeichnet sich das Bild eines furchtbar schief gelaufenen Einsatzes ab. Zwölf Polizeikräfte waren am 8. August in Dortmund im Einsatz, als der 16-jährige Mouhamed D. mit fünf Schüssen aus einer Maschinenpistole getötet wurde. Vorher waren die Beamten mit Reizgas und einem Taser gegen den Jungen vorgegangen. Auch die Staatsanwaltschaft in Dortmund hinterfragt inzwischen die Verhältnismäßigkeit bei diesem Einsatz. 

Viele Fragen, wenig Antworten

In seinem ersten Ausschuss-Auftritt als neuer Justizminister musste sich Benjamin Limbach (Grüne) am Mittwoch in einer Sondersitzung zahlreichen Fragen stellen. Doch die häufigste Antwort des Ministeriums an diesem Nachmittag war der Verweis auf den nichtöffentlichen Teil der Sitzung. Um die Aufklärung nicht zu gefährden, wie er betonte. "Nicht alles kann jetzt beantwortet werden", sagte Limbach. Er könne verstehen, dass "der Fall in der Öffentlichkeit und besonders in der migrantischen Gemeinschaft Fragen aufwirft".

Laut einem aktuellen Bericht des Innenministerium waren die zwölf Polizisten und Polizistinnen zunächst angerückt, um den Jugendlichen von einem Suizid abzubringen. Der Leiter einer Dortmunder Betreuungseinrichtung hatte den Notruf gewählt, weil der 16-Jährige ein Messer gegen sich gerichtet hatte. Der Einsatz von Pfefferspray und Taser führten allerdings laut Bericht dazu, dass der Jugendliche sich schnell auf die Polizisten zubewegte. Dann fielen sechs Schüsse aus der Maschinenpistole eines Polizisten, der seine Kollegen absichern sollte. Immer noch sei nicht klar, ob die Maschinenpistole auf Dauerfeuer oder Einzelschuss gestellt gewesen sei, erklärte Limbach. Dauerfeuer ist bei der Polizei in NRW nach einem Erlass des Innenministeriums verboten.

Fünf verdächtigte Polizeikräfte schweigen

Ermittelt wird nun gegen fünf Polizeikräfte: Gegen den Polizeibeamten, der die Schüsse abgab - wegen gefährlicher Körperverletzung mit Todesfolge. Gegen die Polizeibeamtin, die Reizgas einsetzte und gegen die beiden Kollegen, die den Taser zum Einsatz brachten - wegen gefährlicher Körperverletzung. Gegen den polizeilichen Einsatzleiter, der den Einsatz des Reizstoffsprühgeräts anordnete und weitere Anordnungen zum Einsatzablauf gab - wegen Anstiftung zur gefährlichen Körperverletzung.

Alle fünf schweigen bislang. Nach Aussage des Justizministeriums habe sich bestätigt, dass die mitgeführten Bodycams der Polizeikräfte tatsächlich nicht eingeschaltet waren. Hoffnung auf weitere Aufklärung liegt nun auf dem Mitschnitt eines Telefonanrufs, den ein Betreuer der Jugendeinrichtung, in der der junge Senegalese untergebracht war, mit der Polizei führte. Der aufgezeichnete Notruf werde vom Bundeskriminalamt ausgewertet, um den genauen Ablauf weiter aufzuklären.

Junge meldete sich mit Suizid-Absicht auf Polizeiwache

Laut einem weiteren Bericht, den das Innenministerium nun vorgelegt hat, war Mouhamed D. einen Tag zuvor auf einer Polizeiwache erschienen. Dort habe er "nonverbal Suizidabsichten" geäußert - offenbar durch Gesten. Polizei und Jugendamt brachten ihn daraufhin in die Kinder- und Jugendpsychiatrie Dortmund. Von dort wurde er aber am Abend bereits wieder entlassen.

Warum man den möglicherweise völlig verzweifelten Jungen wieder gehen ließ? Wie lang genau der Tonmitschnitt geht? Um wieviel Uhr die Schüsse fielen? Immer wieder verwies der Minister auf den nichtöffentlichen Teil der Sitzung.

Immerhin: Ein neuer Bericht aus dem Justizministerium enthält mehr Informationen auch zum Werdegang des nur 16 Jahre alt gewordenen senegalesischen Flüchtlings. Demnach soll der Junge sich schon Ende 2019, also mutmaßlich mit zwölf oder 13 Jahren, im Senegal auf den Weg gemacht haben. Seine Reise führte über Mali und Mauretanien nach Marokko. Ende 2021 soll er von dort nach Spanien und schließlich Ende April 2022 über Frankreich nach Deutschland gekommen sein. Seine lange Reise endete am 8. August, abends um 18.08 Uhr in einem Dortmunder Krankenhaus.