Im Dortmunder Hafen stehen Grablichter, Blumen und Zettel mit Abschiedsbotschaften. Sie erinnern an einen 31-jährigen Obdachlosen. Einige Tage zuvor hatte er sich mit Kindern und Jugendlichen gestritten. Dabei soll ihn ein 13-Jähriger mit Messerstichen verletzt und ins Hafenbecken gestoßen haben. Der 31-Jährige rettete sich zwar noch ans Ufer, verstarb aber kurze Zeit später an den schweren Verletzungen
Ein extremes Beispiel, das für eine Vielzahl von schweren Gewaltdelikten steht. Seit 2015 ist die Anzahl der Fälle von Gewaltkriminalität bei unter 14-Jährigen gestiegen – mit einer Delle während der Corona-Pandemie. Die Zahlen stiegen von 1618 auf 3271 Fälle. Dazu zählen zum Beispiel Mord, Vergewaltigung und andere schwere Verbrechen.
Reul will Diskussion über Strafmündigkeit
Wie soll man den Trend stoppen? NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) will eine Diskussion über eine Herabsetzung der Strafmündigkeit führen. "Wenn immer mehr Kinder und Jugendliche mit frühem Alter Straftaten begehen, die schon was Starkes sind, also Bomben bauen oder Messer jemanden in den Rücken stoßen, dann kann man nicht sagen: Der hat überhaupt keine Verantwortung dafür". Das müsse sanktioniert werden, so der Innenminister. Ob dafür die Altersgrenze der Strafmündigkeit herabgesetzt werden muss, sei "eine noch offene Frage".
Das Alter der Strafmündigkeit runtersetzen? Diese Forderung kommt nach furchtbaren Taten, wie in Dortmund, immer wieder auf. Doch noch verfolgt die Gesellschaft einen anderen Ansatz. Wenn Kinder unter 14 Jahren Straftaten begehen, werden sie vom Jugendamt und anderen Organisationen betreut. Es geht dabei um pädagogische Jugendhilfe und nicht um Haftstrafen.
Aber wieso werden Kinder zu Gewalttätern und Mördern? Menno Baumann, Professor für Intensivpädagogik und Soziale Arbeit an der Fliedner Fachhochschule, spricht von einem ganzen "Blumenstrauß" an Gründen: "Auf der einen Seite gibt es gesellschaftliche Gründe: Wachsende Armut, wachsende Bildungsungerechtigkeit, und abgehängt werden im Schulsystem". Solche Prozesse und Brennpunkte seien auf der individuellen Ebene der wichtigste Risikofaktor. Hinzu kämen das eigene Erleben von Gewalt in der Familie. "Und ganz viel ist es auch situativ und Langeweile", sagt Baumann.
Mehr nicht-deutsche Straftäter
Professor Menno Baumann
Die Gründe erklären aus Sicht Pädagogen auch, warum die Zahl der Straftaten Nicht-Deutscher immer weiter steige. Viele Einwanderer leben in schwierigen sozialen Verhältnissen, weil zum Beispiel Integrationsmaßnahmen nicht funktionieren. Dazu kommt laut Baumann: "Menschen mit Migrationshintergrund sind überdurchschnittlich jung und überdurchschnittlich männlich. Und das sind schon mal zwei ganz große Risikofaktoren. Wenn ich diese Risikofaktoren alle mit kalkuliere, dann sind deutsche Kinder, die genauso von Armut betroffen sind, auch genauso kriminell und genauso gewalttätig wie alle anderen auch."
Im Alexianer Martinistift in Nottuln wird aunter anderem mit straffällig gewordenen Kindern und Jugendlichen gearbeitet. Sie werden dort intensivpädagogisch betreut. In kleinen Häusern, umgeben von Feldern und Wiesen, leben Kinder und Jugendliche in "freiheitsentziehenden Maßnahmen", also in geschlossenen Wohngruppen. Sie sind aber nicht eingesperrt, erklärt Geschäftsführer Andreas Schmitz: "Der Zaun um den Garten herum ist als Grenze gedacht, um den Jugendlichen aufzuzeigen: hier ist eine Grenze, und weiter sollst du nicht gehen." Wer es darauf anlege, könne aber drüberklettern, sagt Schmitz.
Pädagogische Maßnahmen statt Bestrafung
Gebäude mit Wohngruppe beim ALexianer Martinistift in Nottuln
22 Kinder und Jugendliche leben hier in der münsterländischen Provinz in den geschlossenen Gruppen zusammen. Gerade ist nur einer unter 14 Jahre alt. Die Zusammensetzung ändere sich aber regelmäßig. Sie alle haben ein stabiles Programm und werden auch psychologisch betreut. Das sei ohne intensive Jugendhilfe nicht möglich, sagt Schmitz. Von einer eventuellen Herabsetzung der Strafmündigkeit, wie Innenminister Reul sie ins Spiel bringt, hält der Experte, nichts: "In dem Alter ist es wichtiger, dass pädagogisch mit den Jugendlichen und den Kindern gearbeitet wird, als dass sie ins Strafsystem integriert werden und da dann mehr verwahrt werden."
Kinder, die Straftaten begehen und früh in Jugendhilfe-Maßnahmen kommen, werden meistens später nicht mehr straffällig, sagen Experten aus der Jugendhilfe einhellig. Viele Wissenschaftlerinnen und Praktiker aus Psychologie, Sozialer Arbeit, Jugendhilfe und Kriminologie bestätigen das.
Was passiert nach schweren Straftaten?
Doch was ist mit Kindern, die andere Menschen töten, wie der 13-Jährige aus Dortmund? Oft kommen sie direkt nach der Tat in eine Psychiatrie, erklärt Pädagogik-Professor Baumann. Das werde entweder durch die Erziehungsberechtigten gewünscht oder von einem Familiengericht angeordnet. Anschließend wird individuell entschieden, wie es weitergeht. Entweder bleiben die Kinder in der Psychiatrie, werden Zuhause vom Jugendamt betreut, oder kommen in eine freiheitsentziehende Maßnahme.
Doch nicht immer sind genügend Kapazitäten vorhanden, um solche Kinder zu betreuen. Und dann? "Die Jugendämter sind dann in der Pflicht, eine andere Lösung zu finden", sagt Andreas Schmitz vom Martinistift. Doch wie sieht die aus? "Im Rahmen von Obhutnahmen ist es so, dass teilweise die Jugendämter Hotelzimmer anmieten". Dort würden die Kinder und Jugendlichen dann von Mitarbeitern des Jugendamtes betreut.
Täter müssen Konsequenzen spüren
Doch ist es fair, dass sie keine Strafe bekommen? Kriminalpsychologe Christian Lüdke arbeitet seit 35 Jahren sowohl mit Kindern, die zu Opfern werden, als auch mit Kindern, die Straftaten begehen. Auch wenn sie nicht vom Rechtssystem bestraft werden, muss es Konsequenzen geben: "Zwölf- oder Dreizehnjährige können in einer Einrichtung untergebracht werden, das heißt, sie sind erstmal aus ihrem gewohnten familiären und freundschaftlichen Umfeld herausgelöst. Das heißt sie spüren eine sehr deutliche Veränderung, die ihnen dann oft nicht gefällt, aber das ist ja auch das Ziel, dass sie sehen, so kann ich nicht weiter machen."
Aber auch Lüdke setzt auf Pädagogik statt auf Bestrafung, so wie alle im Jugendhilfesystem. Die genau passenden Maßnahmen zu finden werde aber immer schwieriger.
Fachkräftemangel behindert Arbeit
Karl Materla von der Bundesarbeitsgemeinschaft Allgemeiner Sozialer Dienst e.V. sieht insgesamt Probleme: "Die reguläre, besonders stationäre, Erziehungshilfe ist diesbezüglich noch unzureichend ausgerichtet. Die Jugendhilfe ist auf Angebote der leistungserbringenden freien Träger angewiesen, dies ist angesichts der Belastung der Jugendhilfe insgesamt nur begrenzt möglich."
Das bestätigt auch Schmitz vom Alexianer Martinistift in Nottuln: "Wir haben im Moment im Jugendhilfesystem einen ganz massiven Fachpersonalmangel."
Über dieses Thema berichten wir auch am 14.04.24 im WDR-Fernsehen bei Westpol.
Unsere Quellen:
- Polizeiliche Kriminalitätsstatistik NRW
- Interview mit Prof. Menno Baumann
- Interview mit Dr. Christian Lüdke
- Interview mit Andreas Schmitz, Geschäftsführer Alexianer Martinistift
- WDR Artikel zur Tötung in Dortmund
- Schriftliches Interview mit Karl Materla