Portrait von Dr. Gil Yaron

Alltag in Tel Aviv: "Papa, ich hasse Krieg"

Stand: 11.10.2023, 15:55 Uhr

Gil Yaron leitet das Büro des Landes Nordrhein-Westfalen in Tel Aviv. Geboren ist er im israelischen Haifa, aufgewachsen in Düsseldorf. Im Interview erzählt er von seiner Arbeit und darüber, wie er mit seinem Sohn die vergangenen Tage erlebt hat.

Herr Yaron, wie erleben Sie den momentanen Kriegszustand?

Ich muss sagen, dass es doch sehr stressvoll ist, obwohl man in Tel Aviv ja eigentlich noch einen "Krieg-de luxe" erlebt. Einfach vor dem Hintergrund, dass man genug Vorwarnzeit hat. Wenn der Raketenalarm hier aufheult, dann hat man rund eine Minute Zeit, um einen Schutzraum aufzusuchen. Unsere Wohnung hier hat einen Schutzraum und da fühlt man sich doch recht behütet und geschützt. Das heißt, man nimmt zwar diese Lebensgefahr wahr, aber man kann etwas gegen diese Gefahr tun. Und das gibt einem natürlich ein gutes Gefühl.

Aber man muss ja auch ab und zu zum Einkaufen gehen. Und dann ist man auf der Straße und man kann sein Kind nicht alleine zu Hause lassen. Man muss mit seinem Kind über die Straßen gehen und dann beginnt dieses Bewusstsein. Wenn sie zum Supermarkt gehen, denken sie sich: Wo kann ich mich so unterstellen, dass ich nicht mehr Lebensgefahr bin?

Aber wie gesagt, das ist in Tel Aviv eine Luxussituation. Die Menschen, die beispielsweise in Städten wie Ashdod oder Aschkelon leben, die haben nicht fünfmal am Tag Raketenalarm, sondern fünfmal in der Stunde. Sie haben 15 Sekunden Zeit, um sich in Sicherheit zu bringen. Das ist eine ganz andere Realität.

Wenn zum Beispiel die Tagesschau nach Israel zu unserer Korrespondentin schaltet, dann sehen wir sie in schusssicherer Weste und teilweise mit Helm, weil jederzeit ein weiterer Angriff kommen kann. Wie bewegen Sie sich in ihrem Alltag in Tel Aviv?

Es ist interessant, wie unser menschlicher Körper reagiert. Man ist in ständiger Alarmbereitschaft. Sie schlafen ja nur noch sehr leicht, Sie nehmen jedes Auto wahr, das zu schnell losfährt. Wenn der Motor aufheult, klingt das am Anfang so wie die Luftschutzsirene. Sie wachen davon sofort auf und Ihnen stehen die Haare im Nacken zu Berge. Nach zwei Sekunden stellt sich herraus, dass es nur ein Auto und kein Luftalarm war und dann beruhigt man sich wieder.

Aber man merkt, wie der Puls schneller gelaufen ist und wie man in sofortiger Fluchtbereitschaft war. Aus meinen Erfahrungen aus den vergangenen Kriegen ist das ein Zustand, der ziemlich lange andauert, auch noch Monate nach dem Krieg. Man ist posttraumatisch auf diese Art und Weise traumatisiert. Man nimmt diese Sache ständig wahr und die Gedanken sind ständig dort. Man kann eigentlich gar nicht mehr entspannen.

Wie reden Sie darüber mit ihrem Sohn?

So traurig es ist: Er ist zwar erst 11, aber es ist ja schon die vierte bewaffnete Auseinandersetzung, die er bewusst miterlebt. In der er im Schutzraum Schutz suchen und übernachten muss. Für ihn ist das eigentlich schon fast Normalität. Er sagte mir erst gestern: "Papa, ich hasse Krieg" und ich habe gesagt: "Ja, ich auch".

Er nimmt einen Teil von dieser Realität wahr. Er weiß, wie man sich schützt. Man ist da natürlich auch immer zwiegespalten. Auf der einen Seite muss man den Ernst der Lage erklären. Auf der anderen Seite möchte ich ihm auch keine Ängste anerziehen. Und so ist man ständig im Zwist zwischen dem Versuch, eine Normalität zu vermitteln und andererseits den Ernst der Lage beizubringen.

Sie haben selber etliche Artikel und Bücher geschrieben, Vorträge gehalten. Haben Sie diese Entwicklung für möglich gehalten?

Ich habe diese Entwicklung für wahrscheinlich gehalten. Wer die Hamas kennt, der wusste, dass letztlich ihre DNA darauf abzielte - und daraus hat sie nie einen Hehl gemacht - den Staat Israel auszulöschen.

Es gab zwar eine gewisse Zeit, wo ich persönlich auch die Hoffnung gehegt habe, dass, wie in manchen Fällen, Extremisten, wenn sie an die Macht kommen, dadurch pragmatischer werden. Aber diese Hoffnung war bei mir nicht groß.

Sie leiten das Büro des Landes Nordrhein-Westfalen in Tel Aviv. Da geht es einerseits um Wirtschaftsbeziehungen, aber natürlich auch um die Pflege von Jugendbegegnungen, Schulpartnerschaften, Stipendienprogrammen, von Studienreisen für Lehrer, Richter, Polizisten, Staatsanwälte. Ist das alles nun gefährdet?

Es ist ähnlich wie die Corona-Epidemie: Die physische Begegnung ist im Augenblick nicht möglich, aber ich glaube, dass durch so einen Krieg und solche Ereignisse das Verständnis in Deutschland für das, was Israel ist und darstellt und was die Beziehungen zu Israel bedeuten, gößer wird. Es ist meine Hoffnung, dass die Empathie und Sympathie mit Israel größer wird.

Auf Hebräisch sagt man: "Wenn du Zitronen von Gott bekommst, dann mach Limonade draus". Das ist es, was wir versuchen werden. Wir wollen aus diesem saurem Krieg die süßen Beziehungen zwischen Nordrhein-Westfalen und Israel noch verbessern. Und ich glaube, es gibt viele Anknüpfungspunkte. Es gab unzählige Anknüpfungspunkte vor dem Krieg, und es wird noch viel mehr nach diesem Krieg geben.

Dieses Interview führte Michael Brocker